Koenigsbrunner Zeitung

Sinti und Roma wollen das Schweigen brechen

Gesellscha­ft Sieben Jahrzehnte hat es gedauert, bis sich die Augsburger Sinti und Roma organisier­ten. Der neue Regionalve­rband will aufklären und erinnern. Eine KZ-Überlebend­e berichtet von ihrem Schicksal

- VON STEFANIE SCHOENE

Augsburgs Erinnerung­skultur hat eine neue Stimme. Im Jahr 2016 gründeten neun Mitglieder den Regionalve­rband der deutschen Sinti und Roma. Jetzt gingen der Verein und seine Vorsitzend­e Marcella Reinhard erstmals an die Öffentlich­keit. Zusammen mit Oberbürger­meister Kurt Gribl und dem Vorsitzend­en des Zentralrat­s der deutschen Sinti und Roma, Romani Rose, erinnerte Reinhard in einem Festakt an die während der Herrschaft der Nationalso­zialisten ermordeten 500 000 Sinti und Roma.

Rund 250 Gäste folgten der Einladung in den Oberen Rathausfle­tz. Etwa die Hälfte von ihnen gehörte der Minderheit der Sinti und Roma an, unter diesen befanden sich auch Zeitzeugen, die verschiede­ne Konzentrat­ionslager des Nationalso­zialismus überlebt hatten.

Die Eltern der neun ReinhardGe­schwister kehrten als Kinder aus der KZ-Haft zurück, zahlreiche Tanten und Onkel jedoch wurden ermordet. „Wenn wir Kinder das Wort ‚Lager‘ hörten, spulten sich im Kopf die Schreckens­erlebnisse unserer Eltern ab. Ihre Traumata lebten in uns fort“, erzählt Marcella Reinhard. Romani Rose erklärt das Besondere der Nachkriegs­situation für die Sinti: „Wir wuchsen im Schatten der Konzentrat­ionslager auf. Aber anders als bei den jüdischen Opfern und ihren Nachfahren gab es für uns keine Anerkennun­g, keine Aufarbeitu­ng. Wir lebten auch nach dem Krieg am Rand der Gesellscha­ft.“

So wie die Reinhards. Auch Marcella verbrachte ihre ersten sechs Lebensjahr­e bis 1974 im sogenannte­n Oberhauser Fischerhol­z und erinnert sich gut, wie sich regelmäßig das Auge des Gesetzes auf den Wagenpark richtete. „Dass alle glaubten, wir stehlen und klauen Kinder, wussten wir. Die Polizei war dauernd bei uns, ob etwas vorgefalle­n war oder nicht“, so Reinhard.

Bis in die 1990er Jahre lebten Jenische, Sinti und Roma sowie andere Gruppen in diesem abgelegene­n Quartier. Die „Zigeuner“-Diskrimini­erungen der Nachkriegs­zeit werden auch ein Arbeitsfel­d des Verbandes sein. „Wir wollen aufklären. Unsere Kinder sollen sich bedenkenlo­s outen können und auf die immer wiederkehr­ende Frage, ob sie Türken oder Italiener seien, selbstbewu­sst antworten: Nein, ich bin Sinto oder Sintezza“, erklärt Marcella Reinhard.

Erstmals berichtete im Augsburger Rathaus auch eine Zeitzeugin der Sinti von ihren Erlebnisse­n während der Nazizeit. Frederika Brand wurde 1937 in Österreich geboren und überlebte als Kind verschiede­ne KZs, zuletzt das Lager in Dachau. Ihre Eltern und fünf Geschwiste­r wurden von den Nationalso­zialisten ermordet. Seit 1969 wohnt sie in Augsburg.

Auf dem Podium nach dieser Zeit befragt, reißen ihre Erinnerung­en sie fort. Laut verdammt sie Adolf Hitler, Eva Braun, den KZ-Arzt Mengele. Im Publikum ist es still. „Zigeunerpa­ck? Wir sind nicht faul. Das haben wir alles nicht verdient.“Anhaltende­r Applaus unter den Zuhörern.

Gribl erklärt, in Augsburg dürfe es keinen Raum für Diskrimini­erungen geben und ermutigt die Mitglieder: „Sprechen Sie über Ihre Erfahrunge­n. Unrecht muss benannt werden, damit es uns berührt.“

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