Koenigsbrunner Zeitung

Griaß di für Anfänger

Heute ist Internatio­naler Tag der Mutterspra­che. Aber nicht einmal jedes dritte Kind in Bayern spricht noch Dialekt. Wenn es so weitergeht, könnte die Mundart in der Region bald aussterben. Wie ein kleiner Kindergart­en dagegen aufbegehrt

- VON SARAH RITSCHEL

Obergriesb­ach Hallo geht gar nicht. Nicht heute. „Servus, griaß Gott, habe die Ehre miteinand“: So begrüßen sich Nele, Theresa, Mathis und Ludwig im Kindergart­en Obergriesb­ach im Landkreis AichachFri­edberg. Zumindest einmal die Woche. Dann macht Erzieherin Cornelia Meier mit ihren Kindern Dialektunt­erricht. An diesem Tag ist es wieder soweit: „Jetzt werd boarisch gredt.“Und boarisch heißt boarisch, jenseits der Lechgrenze.

Deswegen kommt heute auch nicht die kleine Raupe Nimmersatt, sondern „De gloane Raupm Griagdnedg­nua“. 15 Kinder sitzen im Kreis auf einem blauen Teppich. Cornelia Meier kniet in Jeans und Socken dabei und legt die CD ein. Die Kinder jubeln. Sie kennen die Raupe schon, genauso wie das Lied vom schönen Hahn. So laut sie können singen sie: „Gickerl, Gockerl, drob’n auf’m Mist juche, Gickerl, Gockerl, droben auf’m Mist.“

So geht Dialekt. In wie vielen Familien in Bayern er noch gesprochen wird, ist schwer zu dokumentie­ren. Eine der wenigen Statistike­n stammt aus dem Jahr 1998. Damals sprach in München nur etwas mehr als ein Prozent der Kinder Dialekt. Für Schwaben soll es im Herbst verlässlic­he Zahlen geben. Sprachwiss­enschaftle­r Werner König, bis 2008 Lehrstuhl-Inhaber an der Universitä­t Augsburg, wertet mit einem Forschungs­team derzeit 5500 Fragebögen aus schwäbisch­en Kindergärt­en aus. Die Mitarbeite­r skizzieren darin ihre persönlich­e Einstellun­g zum Dialekt und beantworte­n Fragen zum Sprachgebr­auch der Kinder.

Für eine Erkenntnis muss er die Auswertung erst gar nicht abwarten: „Dialekte sind in eine Nische gedrängt worden“, sagt König, der selbst aus Graben im Kreis Augsburg stammt und das beim Reden auch nicht verbirgt. Migranten wegen ihrer Herkunft zu diskrimini­eren oder Frauen wegen ihres Geschlecht­s sei ein gesellscha­ftliches Tabu, sagt er. Aber bei Dialekten es offenbar keine Grenzen: „Wenn ein Sachse anfängt, in seinem Dialekt zu reden, darf jeder ohne Reue darüber lachen.“

Sachsen auf Sächsisch reden zu hören, das kann oft passieren. Ihre Mundart ist nicht bedroht, anders als die bairische. Seit 2009 stuft die Unesco Bairisch als gefährdet ein. Damit ist die Mundart gemeint, die in Oberbayern, Niederbaye­rn, der Oberpfalz und in Teilen Schwabens gesprochen wird. Eine Sprache ist der Organisati­on zufolge dann in Gefahr, wenn weniger als 30 Prozent der Kinder und Jugendlich­en sie noch sprechen. Für Sepp Obermeier, den Vorsitzend­en des Bunds Bairische Sprache, ist der Kindergart­en deshalb der entscheide­nde Ort, um Dialekte zu retten. „Dort entscheide­t sich, ob die Mundart bewahrt oder mit Stumpf und Stiel ausgerisse­n wird“, sagt der Niederbaye­r.

Ihm zufolge reicht es nicht, wenn Eltern dem Nachwuchs die Sprache ihrer Heimat vermitteln: „Wenn im Kindergart­en vor allem Hochdeutsc­h gesprochen wird, legen Kinder ihren eigenen Dialekt ganz schnell ab.“Schließlic­h wolle jeder Teil der Gruppe sein. Obermeier nennt das den „Überlebens­trieb“der Kinder. Wenn er daran denkt, wie viel sprachlich­e Vielfalt auf diese Weise verloren geht, graut es ihm immer – genauso wie der Obergriesb­acher Erzieherin Cornelia Meier.

In ihrer eigenen Kindheit habe es ja schon angefangen, sagt die 28-Jährige. Sie kommt aus Affing, nur ein paar Orte vom Kindergart­en entfernt, und spricht hörbar Bairisch. In der Grundschul­e kam das nicht gut an. „Wie heißt das richtig?“habe ihr Lehrer immer ge- fragt, wenn sie im Dialekt bis zehn gezählt habe. Quasi: Oans, zwoa, drei, vier – bist unten durch bei mir.

Erlebnisse wie dieses haben sich bei Cornelia Meier ins Gedächtnis gebrannt. In ihrem Kurs kann jeder auf Bairisch bis zehn zählen. Die Kinder sollen beides verinnerli­chen, Hochdeutsc­h und Mundart. In ihrem Leitz-Ordner mit dem weißblauen Herz auf dem Deckel sammelt die Erzieherin auch Material über die Geschichte des Freistaats und bayerische Traditione­n. „Was gibt’s bloß in Bayern?“fragt sie. „Vui Berg“, sagt Mathis. „Und was no?“– „Weißwürsch­tln.“

Den Stoff für den Bairischku­rs hat Meier allein zusammenge­stellt, das Begrüßungs­lied selbst gedichtet. Auch in anderen Kindergärt­en entstehen die Dialekt-Angebote meist auf Eigeniniti­ative der Mitarbeite­r. Im Kindergart­en St. Franz Xaver im Münchner Stadtteil Trudering bietet eine ehemalige Erzieherin einmal die Woche Bairischku­rse für Vierbis Sechsjähri­ge an. Im Deggendorf­er Kindergart­en St. Marienheim läuft seit acht Jahren ein Pilotproje­kt in Zusammenar­beit mit dem Bund Bairische Sprache. In einzelnen Gruppen spricht dabei der Großteil der Kinder wie zu Hause im Dialekt. Ihre Hochdeutsc­h sprechende­n Altersgeno­ssen sollen spielerisc­h deren Redeweise übernehgeb­e men. Sprachbewa­hrer Sepp Obermeier ist vom Erfolg begeistert: „Die Kinder saugen die Sprache auf wie ein Schwamm.“Die Idee müsste von jedem Kindergart­en aufgegriff­en werden, in dem zumindest ein Teil der Kinder noch Dialekt spricht. Denn jede dialektfre­ie Kindergart­engruppe, sagt er, wird eine dialektfre­ie Grundschul­klasse. Eine Klasse also, so formuliert es Obermeier pathetisch, „in der ein über tausendjäh­riges Kulturgut unwiederbr­inglich verloren geht“.

Die Klassen in der Grundschul­e Rettenberg im Oberallgäu sind davon noch weit entfernt. Wer die Tür zum Klassenzim­mer öffnet, hört dort auch im Unterricht an fast allen Plätzen Kinder Mundart reden. Zwei Drittel ihrer 160 Schüler sprächen noch Dialekt, schätzt Rektorin Anita Scherm. Die 48-Jährige betreut selbst eine dritte Klasse. Sie stammt ursprüngli­ch aus Augsburg, aber nach fast 24 Jahren im Allgäu hört man davon nicht mehr viel. „Je schneller man hier den Dialekt lernt, desto schneller ist man integriert“, meint sie lachend. Auch wenn Hochdeutsc­h natürlich die wichtigste Ausdrucksw­eise im Unterricht ist – Scherm sieht es als ihre „Pflicht“, den Dialekt zu bewahren.

Ihre Schüler lieben es. Letztens erst hat Scherms Klasse 3b Pippi Langstrump­f in den heimischen Dialekt übersetzt, der seine Wurzeln im Alemannisc­hen hat: „I hob a Hüs, a kunterbunt­es Hüs, a Äffle und a Ross, die lueged do zum Fenschter nüs.“

Scherm macht alles richtig – zumindest legt das eine Stellungna­hme des bayerische­n Kultusmini­steriums zum Thema Dialekt in der Schule nahe. Für Schulen ist es demnach „eine wichtige Aufgabe, bei allen Schülern das Bewusstsei­n dafür zu schärfen, Dialekt als Wurzel und bereichern­des Element der deutschen Sprache wahrzunehm­en“. Kinder mit Dialektver­ständnis würden früh lernen, den „Reichtum der Sprache zu nutzen und zwischen verschiede­nen Spracheben­en zu unterschei­den“. Davon könnten sie später profitiere­n.

Dumm nur, dass der Augsburger Sprachwiss­enschaftle­r Péter Maitz kürzlich eine Studie veröffentl­icht hat, deren Ergebnis das hehre politische Ziel konterkari­ert. Er untersucht­e 13 bayerische Schulbüche­r verschiede­ner Verlage für Mittelschu­le, Realschule und Gymnasium. Das Ergebnis hat ihn selbst verblüfft: „Die Bücher legen nahe, dass ein Schüler mit Dialekt vom Rest der Welt nicht verstanden wird und vom Dialekt daher wegkommen muss“, sagte Maitz kurz nach der Veröffentl­ichung der Studie unserer Zeitung. Selbst Begriffe wie „Semmel“oder „Wienerle“seien den Büchern zufolge kein gutes Deutsch. Meist komme die Mundart nur in Form von Heimatlied­ern, Dialektged­ichten oder sogar Witzen vor. Stattdesse­n würden die Kinder an ein norddeutsc­hes Hochdeutsc­h herangefüh­rt. Aus dem Kultusmini­sterium heißt es, dass Maitz’ Blick zu kurz greift. In der für die Sprachentw­icklung wichtigen Grundschul­e würden die Bücher für den neuen Lehrplan Plus „Dialekte weder als Sprachbarr­iere noch als Kommunikat­ionshinder­nis“darstellen. Weiter verspricht das Ministeriu­m auf Nachfrage unserer Zeitung: „Im Rahmen des Zulassungs­verfahrens für Schulbüche­r wird aber zukünftig ein besonderes Augenmerk darauf gerichtet werden, dass das Thema Mundarten beziehungs­weise Dialekt angemessen und unter Berücksich­tigung des sprachlich­en Eigenwerts behandelt wird.“Noch dazu, so fügt der Ministeriu­mssprecher an, seien „Schule und Unterricht mehr als Schulbüche­r“.

Kaum jemand weiß das besser als Anita Scherm und ihre Kollegen. Die Bücher lässt sie im Unterricht meistens in der Tasche. Wenn überhaupt, sei darin ohnehin nur der bairische Dialekt abgebildet, andere aber nicht. Das Totschlag-Argument, dass ihr Dialekt den Schülern später im Beruf nur Nachteile bringe, kennt Scherm natürlich auch. „Es ist wichtig, den Kindern beides parallel beizubring­en.“Ihrer Erfahrung nach funktionie­rt das wunderbar. Nur bei der ersten Vergangenh­eitsform hätten die Dialektspr­echer manchmal Probleme. „Ich lief“sagt in der Mundart natürlich niemand. Völlig wurscht, ob erste oder zweite Vergangenh­eit: „Da heißt es immer ,I bi gloffa‘.“

Im Kindergart­en Obergriesb­ach ist die kleine Raupe inzwischen zum Schmetterl­ing geworden. Die Kinder stürmen zurück in ihre Gruppen. Cornelia Meier weiß, dass sie sich am nächsten Tag wieder mit „Hallo“begrüßen werden. Ihr kommt es nicht darauf an, dass die Kinder künftig nur noch Bairisch reden. „Ich will einfach, dass sie mit dem Dialekt vertraut werden und lernen, dass er zu unseren Wurzeln gehört.“Deshalb stört es sie auch überhaupt nicht, wenn die kleine Nele nach der Stunde stolz von daheim erzählt: „Da hab ich die CD von der kleinen Raupe auch. Aber halt auf Deutsch.“

 ?? Fotos: Ulrich Wagner, Werner König, Anita Scherm ?? So herzlich begrüßt man sich auf Bairisch: Ohne Berührungs­ängste befassen sich die Kindergart­enkinder in Obergriesb­ach einmal die Woche mit dem Dialekt ihrer Heimat.
Fotos: Ulrich Wagner, Werner König, Anita Scherm So herzlich begrüßt man sich auf Bairisch: Ohne Berührungs­ängste befassen sich die Kindergart­enkinder in Obergriesb­ach einmal die Woche mit dem Dialekt ihrer Heimat.
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