Koenigsbrunner Zeitung

Das Herz am rechten Fleck

- VON REGINE KAHL

Die Operation war eine Herausford­erung Bei Günther Haueisen liegen alle Organe seitenverk­ehrt im Körper. Wie es dem 75-Jährigen aus Stadtberge­n damit geht und warum er nicht nur für Ärzte eine Attraktion ist

Als Günther Haueisen für eine Gallenblas­enoperatio­n im Krankenhau­s war, schrieb ihm seine Ehefrau mit Augenbraue­nstift „totaler Situs inversus“auf die Brust. Ursula Haueisen hatte Sorge, der Arzt könnte ihren Mann auf der verkehrten Seite aufschneid­en. Der Gedanke war nicht aus der Luft gegriffen. Bei Günther Haueisen liegen sämtliche Organe seiten- und spiegelver­kehrt. Im Medizinerd­eutsch heißt dies „Situs inversus“.

„Ich dachte mir, sicher ist sicher, man weiß ja nie“, erzählt Ursula Haueisen lächelnd von ihrer Beschriftu­ngsaktion. Man lese ja immer mal wieder, dass bei einer Knieoperat­ion das falsche Bein erwischt wurde. Bei der OP ihres Mannes ist alles gut gegangen. Für den Arzt ist so ein Eingriff eine Herausford­erung. Alle routiniert­en Handgriffe sind spiegelbil­dlich nötig.

Der in Stadtberge­n bei Augsburg lebende Günther Haueisen ist einer der wenigen Menschen, bei denen alle Organe auf der falschen Seite liegen und auch spiegelbil­dlich gebaut sind. Die Betroffene­n sind in der Regel völlig gesund, auch dem heute 75-jährigen pensionier­ten Lehrer fehlt nichts. „Ich hatte Riesenglüc­k“, sagt er. Es gebe Betroffene, die schlimm dran seien. Tauschen nämlich nicht alle Organe die Seite, treten oft massive gesundheit­liche Beschwerde­n auf.

Haueisen weiß schon seit der Kindheit, dass er das Herz im wahrsten Sinne des Wortes am rechten Fleck hat. Als er mit zehn Jahren mit einer Grippe im Bett lag, horchte ihn der Hausarzt ab und stutzte über die leisen Herztöne auf der linken Seite. Nach einiger Zeit sagte er: „Der Junge hat wohl das Herz rechts.“Die Diagnose wurde beim Röntgen bestätigt. Zur damaligen Zeit, im Jahr 1951, sei darum „kein großes Aufheben“gemacht worden, erzählt Haueisen, auch nicht von seiner Mutter. „Mir hat ja sonst nichts gefehlt.“

Von diesem Tag an war Haueisen dennoch eine kleine Sensation, vor beim Doktor. „Da lassen die Ärzte im größten Stress alles andere liegen“, berichtet der Stadtberge­r. Die Mediziner wollten bei ihm Ultraschal­l machen und den Bauch abdrücken. Haueisens Eindruck: „Das finden alle höchstinte­ressant.“

Auch sein langjährig­er Hausarzt, Dr. Kurt-Dieter Reising aus Neusäß, erinnert sich an die ersten Besuche von Haueisen in der Praxis. Als er nach einem fettreiche­n Essen über kolikartig­e Schmerzen im Bauch klagte, war es eben die links sitzende Galle, die Probleme machte. Sie hat den Platz der Milz eingenomme­n. Die Angestellt­en in der Praxis wissen alle, welche Besonderhe­it bei Haueisen vorliegt. Eine neue Kollegin sei einmal aufgeregt zu ihm gekommen, nachdem sie ein EKG bei Haueisen gemacht hatte, erinnert sich Dr. Reising. Nichts ahnend hatte sie die Elektroden so wie immer angelegt und war alarmiert über das Ergebnis der Messungen gewesen. Eine Attraktion war und ist Günther Haueisen auch außerhalb der Arztpraxen. Grinsend erinnert er sich an die Schulunter­suchungen. Seine Klassenkam­eraden haben ihn aufgeforde­rt, dem Arzt nichts zu sagen, um diesen zu testen. Als der Doktor mit besorgtem Gesicht sein Stethoskop immer wieder auf der linken Seite ansetzte, musste Schüler Haueisen irgendwann losprusten und klärte den Mann im weißen Kittel auf.

Der aktive und fitte 75-Jährige kann so manche Anekdote erzählen. Während des Studiums paukte er mit einem Freund für das Staatsexam­en in Englisch. Als das Wort Herz zur Sprache kam, erwähnte er beiläufig, dass er das Herz rechts habe. Der Mitstudent sprang erschrocke­n auf und drängte ihn, etwas zu essen und zu trinken. Es dauerte einige Zeit, bis Haueisen ihn beruhigt hatte, dass er trotz des Examens nicht dabei sei, überzuschn­apallem pen. Auch später als Gymnasiall­ehrer in Neusäß passierte es Haueisen, dass Schüler dachten, er mache wie sonst oft einen Scherz, wenn er von seiner „Verdrehthe­it“erzählte. „Die Kinder konnten es nicht glauben, fragten immer wieder nach.“

Die Wissenscha­ftler rätseln, warum sich in seltenen Fällen die Organe auf den falschen Seiten bilden. In der Familie von Haueisen hat sonst niemand eine solche Anomalie. Auch weitervere­rbt wurde es nicht. Weder Sohn, Tochter noch die fünf Enkelkinde­r sind betroffen. Dr. Reising spricht von „einer anatomisch­en Variante“. Sie sei für die Behandlung kein Problem, nur für die Diagnose.

Sorge macht sich das Ehepaar Haueisen daher, wenn ein Notfall, wie zum Beispiel ein Autounfall, passieren sollte und die Rettungskr­äfte schnell richtig handeln müssen. Ursula Haueisen hat ihrem Mann eine SOS-Halskette gekauft. Klappt man das Medaillon auf, steht dort „Situs inversus“. Ein Aufkleber im Auto weist auf die Kette hin. Immer wieder verspricht Günther Haueisen seiner Frau, die Kette regelmäßig und nicht nur im Urlaub zu tragen. Wenn jahrelang nichts passiert, werde man nachlässig, gibt er zu und gelobt Besserung. Für Reisen nach Amerika, wo der Sohn mit Familie lebt, hat er ein Attest, das auf Englisch auf die gespiegelt­en Organe hinweist.

Haueisen hat sich längst daran gewöhnt, dass das Interesse an seinem Inneren groß ist. Immer wieder wird er gefragt, wie es so ist, das Herz rechts zu haben. „Ich fühle mich als ganz normaler Mensch, ich kenne es ja nicht anders“, antwortet er dann. Seine Frau erhebt Einspruch mit einem großen Kompliment nach über 50 Jahren Ehe. Sie habe von Anfang an gewusst, dass sie „einen ganz besonderen Mann“habe.

 ?? Foto: Marcus Merk ?? Bei Günther Haueisen aus Stadtberge­n liegen die Organe seitenverk­ehrt im Körper. Gesundheit­liche Probleme hat er dadurch nicht. Die meisten Ärzte stutzen erst einmal, wenn sie das Stethoskop anlegen.
Foto: Marcus Merk Bei Günther Haueisen aus Stadtberge­n liegen die Organe seitenverk­ehrt im Körper. Gesundheit­liche Probleme hat er dadurch nicht. Die meisten Ärzte stutzen erst einmal, wenn sie das Stethoskop anlegen.

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