Am Fußball hängt die Seele der Nation
Was Sport mit patriotischem Gefühl zu tun hat, war Thema einer schwäbischen Tagung im Fifa-Hauptquartier
Zürich Eigentlich ist die Sache ganz einfach: „Eine Nation ist eine Nation, wenn sie eine eigene FußballNationalmannschaft hat.“Was der Historiker Dominik Schaller eher überspitzt-provokativ an den Beginn der zehnten sportgeschichtlichen Konferenz der Schwabenakademie stellte, wirkte angesichts des Ausblicks aus dem Tagungsraum durchaus plausibel. Denn dort flatterten, ordentlich entlang eines edlen Spielfeldes aufgereiht, die Flaggen der 211 nationalen Verbände des Fußball-Weltverbandes. Erstmals nämlich kamen die Experten des inzwischen renommierten Sporthistorikertreffens nicht am Sitz der Schwabenakademie im Kloster Irsee bei Kaufbeuren zusammen, sondern im Fifa-Hauptquartier hoch über Zürich.
Als im Jahr 2000 das in Deutschland noch recht exotische Vorhaben begann, die schönste Nebensache der Welt mit den Augen der Geisteswissenschaften zu betrachten und zu analysieren, hätte sich wohl auch Markwart Herzog nicht träumen lassen, dass seine Veranstaltung einmal zu solchen Ehren kommen würde. Der Direktor der Schwabenakademie, Jahrgang 1958, ist eigentlich promovierter Religionsphilosoph, aber eben auch Fußballfan durch und durch – sowohl im Stadion, wenn er den 1. FC Kaiserslautern anfeuert, als auch in Archiven und Bibliotheken. Entsprechend machte er sich zusätzlich als Sporthistoriker einen Namen und befördert mit den regelmäßigen Treffen in Irsee diese nach wie vor eher ausgefallene Forschungsrichtung. „Wir sind momentan die einzige Institution in Deutschland, die regelmäßig fußballhistorische Tagungen abhält“, sagt Herzog, der bei der Organisation der Symposien inzwischen mit Dominik Schaller von der Uni Heidelberg zusammenarbeitet.
der von Anfang an enormen Themenvielfalt der „Irsee Sports Historical Conferences“liegt ein klarer Schwerpunkt auf der Aufarbeitung von Antisemitismus und Nationalsozialismus im Bereich des Fußballs. Damit hat sich Herzog – zuletzt durch seine fundierte Kritik an der Selbstdarstellung des FC Bayern während der NS-Zeit im Vereinsmuseum in der Münchner Arena – nicht nur Freunde in der mächtigen Fußballszene und darüber hinaus gemacht.
Umso größer ist die Freude bei dem Wissenschaftler, dass für die Tagung jedes Jahr mehr Themenvorschläge aus aller Welt bei der Schwabenakademie eingehen und nun nach dem Deutschen Fußballbund (DFB) auch die Fifa diese Be- großzügig würdigt. „Wir sehen uns als Kompetenzzentrum für alles, was mit Fußball zu tun hat. Deshalb unterstützen wir diese Konferenz sehr gerne“, sagt Emanuel Femminis, der den Fußball-Weltverband bei der Tagung in Zürich vertrat.
Gut zwei Tage lang ging es dort nun um das Thema, ob und wie Fußball ein Instrument sein kann, um Nationen zu bilden, das Nationalgefühl oder eben auch den Nationalismus zu stärken – und zwar auch in Ländern, die weniger als FußballHochburgen bekannt sind. Entsprechend kamen die rund 50 Teilnehmer auch aus den USA, aus Indien, aus Israel oder aus ehemaligen Sowjetrepubliken.
„Wir spielen einen sehr schlechTrotz ten Fußball, und ich erkläre Ihnen warum“, begann Octavian Ticu seine Ausführungen über die Fremdbestimmung des Fußballs in Moldawien durch die frühere Sowjet-Zentralregierung in Moskau. Während ein einzelner Verein mithilfe von guten Spielern aus dem gesamten Sowjetreich zum „Super-Club“aufgerüstet wurde, um der zerrissenen Republik eine neue, prosowjetische Identität zu geben, wurde der Breitensport vernachlässigt. Entsprechend verheerend, so Ticu, sei es seit dem Zusammenbruch der UdSSR sowohl um das Nationalgefühl als auch um die Fußballkultur in seinem Land bestellt.
Mikayel Zolyan aus der armenischen Hauptstadt Eriwan berichtete vom früheren Topteam der Kaukamühungen sus-Republik, „Ararat“, das 1973 sensationell Meisterschaft und Pokal in der ersten sowjetischen Liga holte. Diese Mannschaft, so Zolyan, spiele im Nationalbewusstsein des inzwischen unabhängigen Staates immer noch ein große Rolle – erst im vergangenen Jahr wurde ein monumentales Bronzedenkmal für die Kicker enthüllt. Gleichzeitig stehe es aber auch für die Sowjet-Nostalgie in Teilen der Bevölkerung.
Auf die Nostalgie-Karte setzt laut Luke Hodges-Ramon (London) auch der derzeitige ungarische Ministerpräsident Viktor Orban. Er gebe sich nicht nur als begeisterter Fußballfan, der sich nicht scheue, einem favorisierten Club ein edles 4000-Plätze-Stadion in einem 1500-Einwohner-Dorf zu ermöglichen. Fußball, und insbesondere die Erinnerung an das „Golden Team“, das 1953 sogar England schlug, sei für Orban auch ein Mittel, um seinem Land eine postkommunistische, nationale Identität zu geben – obwohl die große Zeit des ungarischen Fußballs just in die Zeit des kommunistischen Regimes fiel.
Während es bei etlichen Vorträgen darum ging, den politischen Missbrauchs des Sports, dessen Ausmaße und den Erfolg oder Misserfolg dieser Bestrebungen zu beschreiben, hatten Holly Collison und Gary Armstrong (London) ein positives Gegenbeispiel parat: Im westafrikanischen Liberia, das durch jahrzehntelangen Bürgerkrieg völlig zerrüttet ist, sahen Hilfsorganisationen und die Vereinten Nationen trotz größter Anstrengungen nur noch ein Mittel, um in der seit Generationen verrohten Gesellschaft wieder grundlegende soziale Kompetenzen zu vermitteln: Sie verteilten Fußbälle. Nach den Erfahrungen von Holly Collison, die mehrere Jahre in Liberia tätig war, gibt es vereinzelt Hoffnungsschimmer, dass dieses Konzept funktionieren könnte.