Koenigsbrunner Zeitung

Jeden Tag ein Polaroid – bis zum Tod

- VON SABRINA SCHATZ

Der US-Amerikaner Jamie Livingston fotografie­rte 19 Jahre lang seinen Alltag. Wieso sein Lebenswerk heute tausende Menschen aus aller Welt rührt

Augsburg Als James „Jamie“Livingston eine Polaroid-Kamera geschenkt bekommt, ändert sich sein Leben: Fortan knipst der US-Amerikaner jeden Tag ein Foto – 19 Jahre lang. Mehr als 6500 Bilder sammeln sich dadurch an. Das letzte Foto ist verzerrt. Es zeigt Livingston im Krankenbet­t. Sein Mund steht offen, die Augen sind geschlosse­n, um das Bett herum stehen Menschen, die auf ihn herabsehen. Kurz darauf stirbt er mit gerade mal 41 Jahren an einem Hirntumor. Sein Lebenswerk – ganz buchstäbli­ch – soll jedoch nicht mit ihm gehen. Dafür hat er gesorgt.

Livingston­s Projekt beginnt am 31. März 1979, als er als 22-jähriger Student seine Freundin und eine weitere Frau ablichtet. Die beiden blicken in die Ferne, lächeln. Es folgen tausende weitere Momente, die der junge Mann mit seiner Sofortbild-Kamera einfängt: Freunde, die sich auf einer Blumenwies­e sonnen. Uni-Absolvente­n mit schwarzen Hüten auf dem Kopf. Eine Familie beim Kaffeekrän­zchen. Die hektischen Straßen von New York. Auch Alltagsgeg­enstände wie eine Schreibmas­chine oder Schallplat­te sind auf einzelnen Bildern zu sehen.

All die Facetten, die das Leben des jungen Fotografen, Filmemache­rs und Zirkusküns­tlers ausmachten, sind abgebildet. Denn er verfolgt den Plan, ein fotografis­ches Tagebuch zu erstellen. Auch dann noch, als er gegen den Krebs kämpft. Das letzte Bild fängt seine Kamera am 25. Oktober 1997 ein.

In den Folgejahre­n sortieren und scannen Hugh Crawford und Betsy Reid die unzähligen Bilder. Sie wollen das Lebenswerk ihres Freundes veröffentl­ichen. Zu dessen zehntem Todestag findet eine Ausstellun­g am Bard Collage statt, der privaten Hochschule im Bundesstaa­t New York, die Livingston besucht hatte. Crawford sprach nach der Ausstellun­geröffnung 2007 mit der New York Times über die Polaroid-Bilder seines Freundes. Er sagte: „Stehen sie für sich, haben sie oft keinen tieferen Sinn. Reiht man sie aber aneinander, verselbsts­tändigen sie sich.“

Außerdem stellt Crawford einen Blog unter dem Titel „Some Photos of the Day“ins Internet. Tausende Menschen aus aller Welt klicken sich inzwischen durch die Bilder – und sind gerührt. Ein Mann namens Andrés Castillo kommentier­t das Bild des 8. Oktobers 1996: „Ich wollte sehen, was andere Menschen am Tag meiner Geburt getan haben – und ich liebe es.“Zum 12. Juni 1995 schreibt Margaret Aziz: „Mein jüngster Sohn wurde an diesem Tag geboren. Ich erinnere mich, dass es ein Montag war und die Sonne schien wie auf diesem Bild.“Weggefährt­en Livingston­s entdecken sich und schreiben: „Das bin ich!“So finden viele Erinnerung­en auf dem ungewöhnli­chen Blog zusammen – an Tage, an denen die Menschen vor den Traualtar getreten sind oder einen Verwandten beerdigen mussten.

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Foto: dpa (Symbol) Vor 70 Jahren erfand ein Amerikaner die Polaroid Kamera. Ein anderer dokumentie­r te damit sein Leben und rührt bis heute viele Menschen.

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