Ein Leben auf Zehenspitzen
Lenny ist elf und hat einen seltenen Gen-Defekt. Er spricht nicht, leidet unter epileptischen Anfällen, benötigt Hilfe rund um die Uhr. Wie seine Familie damit umgeht, sein ungewöhnlicher Schulalltag aussieht und was ihn immer wieder zum Lachen bringt
Aichach Wenn Lenny läuft, hält jeder den Atem an. Die Arme pendeln. Seine Augen zucken mal hierhin, mal dorthin. Er taumelt auf Zehenspitzen. Schritt für Schritt. Die Eltern haben Polster an den Kanten der Möbel befestigt, es gibt einen großen Teppich und Matten in dem Einfamilienhaus bei Aichach. Der Elfjährige mit dem Schutzhelm auf dem Kopf stolpert. Fängt sich wieder. Stößt sich an der Wand. Als habe er kein Gefühl dafür, wo er aufhört und die Welt anfängt. Schließlich fällt er hin. Und gibt keinen Laut von sich.
Was Lenny so besonders macht, beginnt auf einer nicht sichtbaren Ebene. Eine Veränderung an dem Chromosom, das dem Phänomen auch seinen Namen gibt: Idic 15. Der übliche Satz von 46 Chromosomen ist am 15. Chromosom um eine Verzweigung erweitert. Das ist äußerst selten. „Jedes Jahr wird nur ein Fall mit dieser ChromosomenVeränderung an unserer Einrichtung diagnostiziert“, sagt Ortrud Steinlein, Leiterin des Instituts für Humangenetik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Dies geschieht oft durch Zufallsbefunde, meist bei Kindern. Im Orphanet Journal of Rare Diseases, einem Fachmagazin für seltene Erkrankungen, heißt es, von 30 000 Neugeborenen sei eines betroffen.
Lennys Schwester Marie rutscht neben ihm auf Knien über den Boden. „Nicht auf den Teppich!“, kiekst sie und streckt die Arme aus. Bibi trippelt in die entgegengesetzte Richtung und plustert sich auf. Sie ist eine Wachtel, das einzige Tier, das vor zwei Wochen aus insgesamt zwölf Eiern geschlüpft ist. Und nun Haustier der Familie – neben Labrador-Welpe Elli. Eifrig zupft Bibi an Lennys Pullover.
Lenny reagiert nicht. Er ist in sich versunken. Seine Hände schwimmen in der Luft, die Finger sind gekrümmt, sie formen auf- und abwiegende Wellen. Marie pflückt den Vogel von seinem Arm. Vorsichtig streicht die Sechsjährige über das Gefieder und schaut zu ihrem Bruder. „Lenny spielt lieber allein.“
Vor und auch längere Zeit nach seiner Geburt hat es keine Auffälligkeiten gegeben. „Beim ersten Untersuchungstermin hat sich der Arzt gefreut. ,So ein netter, gesunder Bub‘ war seine Aussage“, erzählt Mama Sabine und streicht sich die dunklen Haare hinter die Ohren. Erst nach vier Monaten habe sie gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung ist. „Manchmal lag er in der Wiege und hat herzlich gelacht, und dann ...“Die 43-Jährige fasst sich an die Wangen. „Dann hat er das Gesicht angespannt und verzogen, ganz schräg, wie in einem Krampf.“
Die Diagnose traf die Familie unvorbereitet. Mit der Chromosomen- Veränderung sind von Mensch zu Mensch variierende geistige Einschränkungen und körperliche Auffälligkeiten verbunden. „Das hängt davon ab, ob der betroffene Abschnitt des Chromosoms genetische Informationen enthält“, erklärt Professorin Steinlein. „Wenn es das nicht tut, gibt es keine Ausprägungen. Wenn doch, wirkt sich die verkehrte Gen-Dosis bereits in der Embryonalzeit auf die Entwicklung des Gehirns aus.“Damit sind Entwicklungsstörungen und Lernschwierigkeiten verbunden, Verzögerungen in Motorik und Sprache, oft Epilepsie und Autismus.
Anfangs wusste die Familie nicht, ob Lenny jemals laufen, jemals ein Wort sagen würde. Bald hörten sie auf, sich über die Folgen des GenDefekts zu informieren. „Irgendwann willst du einfach nicht mehr wissen, was die Zukunft bringt.“Die Medikamente gegen die epileptischen Anfälle vertrug das Kleinkind nicht, beinahe starb es an Leberversagen. Die Umstellung auf homöopathische Mittel hingegen wirkte und tut ihm noch heute gut, wird aber von der Krankenkasse nicht bezahlt. Für das Jahr 2016 hat Sabine etwa 4000 Euro für Behandlungen und Medikamente ausgerechnet.
Nach einigen Monaten mit der neuen Medikation war Lenny für drei Jahre anfallsfrei. „In der Zeit hat dann die Entwicklung begonnen, mit Kopf halten, sitzen, krabbeln, dann auch laufen.“Sabine schmunzelt. „Nur hat er dann nicht mehr geschlafen. Wir haben ihn die meisten Nächte getragen. Bis er fünf oder sechs Jahre alt war.“Heute sind die Anfälle wieder häufiger – und schlimmer. Manchmal kommen sie öfters am Tag und sind so anstrengend, dass Lenny danach stundenlang schläft. Nun hoffen sie, dass ein neues homöopathisches Präparat Linderung bringt.
Jürgen kommt herein. Der Fliesenlegermeister streicht seinem Sohn über den Kopf und beugt sich zu ihm hinunter: „Hey Lenny, was machst du da?“Lenny spielt unbeirrt mit einer Rassel in der Hand, er reagiert nicht auf den 40-Jährigen. Rascheln, Knistern, Klacken – alles Geräusche, die ihn faszinieren. Das ist auch eine Methode, die im Unterricht zum Tragen kommt.
In der Elisabethschule der Lebenshilfe Aichach sitzt Bettina an einem der Tische, auf dem Schoß eine Kiste mit bunten Flaschen. Die Frau mit den langen, braunen Haaren ist Lennys Schulbegleiterin. An diesem Tag beginnen sie mit Greifübungen. Lenny wirbelt mit Wonne Flaschen durch die Luft, gefüllt mit Sand, Flüssigkeit und Murmeln.
Bettina hat zuvor als Krankenschwester gearbeitet. Nach der Geburt ihrer Tochter orientierte sie sich um und landete hier in der Förderschule. „Wir haben hier so schön viel Zeit füreinander“, sagt sie und kitzelt Lenny, der mit abwesendem Gesichtsausdruck in seinem Rollstuhl sitzt. Ein Schmunzeln huscht über sein Gesicht. Er hat heute einen guten Tag.
Bei der Begrüßungsrunde mit Lehrerin Gabriela Preschel herrscht eine vergnügte Stimmung im Klassenzimmer. Die Schüler erzählen, was sie morgens gemacht haben. Malen, Farben zuordnen, Buchstaben sortieren und eben Greifübungen. Einige Kinder rutschen aufgeregt auf den Stühlen herum, ein Mädchen mit blonden Zöpfen spitzelt über seinen Brillenrand, der Nachbar reibt sich die Hände und grinst. Lenny blinzelt in das Licht der Deckenlampen. Er hat einen blauen Fleck an der Backe. So viele Matten, um alle seine Stürze aufzufangen, kann es nicht geben.
Dann übernimmt Franz Breitsameter, der mit Gabriela Preschel den kranken Klassenleiter vertritt. „Unser Ziel ist ein Spagat zwischen Gemeinschaft und individueller Förderung“, erläutert der Sonderpädagoge. Es gehe nicht nur um Ausbildung und Therapie, sondern auch um die Wahrnehmung als soziale Gruppe. Also auch zu begreifen, dass alle Mitglieder unterschiedliche Fähigkeiten besitzen, sich anders verhalten, anders denken. Für jedes Kind wird dann in Absprache mit dem Betreuer und den Eltern ein Lernprogramm erstellt. Bei Lenny geht es unter anderem um das Körperbewusstsein.
Der Inselraum der Elisabethschule hat große Fenster mit weißen Vorhängen, durch die das Licht in den Raum rieselt. „Das, was wir vorhaben, haben wir schon länger nicht mehr gemacht“, sagt Breitsameter und zieht sich die Turnschuhe aus. Auch Bettina schlüpft aus ihren Schuhen. Lenny stakst aus seinem Rollstuhl, sichtlich erleichtert, sich bewegen zu können. Aber genau das wird gleich unterbunden. „Das nennt sich Pucken. Wir versuchen, einen Zustand herzustellen, der der Enge im Mutterleib gleicht.“
Der Sonderpädagoge hilft Lenny dabei, sich hinzulegen. Der Elfjährige zappelt mit den Beinen, will wieder aufstehen, rudert mit den Armen wie ein Käfer. Die beiden Erwachsenen rollen ihn in eine grüne Decke, die sich eng um ihn legt. Unter der Decke bewegen sich noch die Hände, dann verharren sie.
Ruhe strömt aus seinem Gesicht, das sich entspannt und einen fast verblüfften Ausdruck zeigt. Lenny seufzt. „Ich bin positiv überrascht“, flüstert Bettina. Einige Minuten vergehen, dann rollt sich der Elfjährige selbst aus der Decke. Ein Erfolg auf ganzer Linie, wie es aussieht.
Das Programm geht weiter mit Gehübungen in Orthesen, die seine Beine in eine normale Haltung bringen sollen. Das heißt, kein Laufen auf dem Vorderfuß mehr. Lennys Art, sich auf Zehenspitzen fortzubewegen, ist nicht so ungewöhnlich. Sie gehe auf eine neurologische Störung zurück und sei häufig bei derartigen Veränderungen im Erbgut, erläutert Fachärztin Steinlein. „Die Koordination klappt nicht.“
Die Übung macht Lenny erkennbar keinen Spaß. Lustlos hängt er in dem Gehwagen, richtet sich kaum auf und starrt die Lichter an den Wänden an. „Das ist unangenehm für ihn“, sagt Bettina. „Aber es ist wichtig für Muskulatur und Sehnen, sonst verkürzen sie sich mehr und mehr.“Am besten wäre es für ihn, die Stützen auch nachts zu tragen, doch dann würde er nicht mehr schlafen. Jede Maßnahme in der Schule ist auf den Elfjährigen zugeschnitten. Aber was ihm am meisten Spaß macht, steht bei ihm zu Hause im Wohnzimmer, zwischen Ledercouch und Sitzsack.
Wenn Lenny auf das Trampolin steigt, passiert etwas ganz Besonderes. Der Junge, der sich sonst so unbeholfen fortbewegt, springt auf Zehenspitzen. Zuerst nur vorsichtig, dann höher und höher. Sein Mund wird breit, öffnet sich, er lacht. Seine Augen strahlen. Manchmal jauchzt er. Die Freude glüht auf seinem Gesicht – und verschwindet sofort wieder. Diese Momente sind selten und kostbar, und die Familie hütet die Erinnerung an sie wie einen Schatz. „Einmal hat er einen Kochtopf mit Holundersaft vom Herd gezogen, die ganze Küche war rot“, erzählt seine 18-jährige Schwester Céline lachend. „Da stand er und hat gekichert.“Oder das eine Mal, als er als kleiner Bub auf der Couch saß und einen Lachanfall hatte – den Grund weiß keiner mehr genau, nur, dass es so gewesen ist. Sabine hat einen Stapel mit Kalendern, Notizbüchern und Fotos vor sich. Da ist Lenny, prustend auf der Couch, mit roten Backen.
„Manchmal frage ich mich schon, warum uns das passiert ist“, sagt Mama Sabine. „Manchmal überlege ich auch, ob ihm eine andere Familie mehr geben könnte. Aber dann denke ich, dass er von anderen Eltern vielleicht weggegeben worden wäre.“Sabine wirft einen Blick auf ihr Kind, das voller Inbrunst Trampolin springt. „Und dann bin ich froh, dass wir es waren.“
Der Arzt sagte erst: So ein netter, gesunder Bub Dieser Moment überrascht auch die Schulbegleiterin