Koenigsbrunner Zeitung

Ihre Kindheit endete im Alter von fünf Jahren

Heimat(los) Annelore Götz musste damals das Sudetenlan­d verlassen. Dort hat sie ihren Vater das letzte Mal gesehen / Serie

- VON STEFFI BRAND

Ellgau Annelore Götz präsentier­t ihren größten Schatz: ein altes Fotoalbum. Sorgsam streicht sie über die Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die sie im Kreis ihrer großen Familie „in der alten Heimat“zeigen, wie sie erzählt. Dass die 76-Jährige heute in bebilderte­n Erinnerung­en an ihre ersten fünf Lebensjahr­e schwelgen darf, ist wahrlich nicht selbstvers­tändlich, denn ihre unbeschwer­te Kindheit endete im Oktober 1945. Damals musste die Fünfjährig­e gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren zwei Brüdern, beide erst wenige Monate alt, die alte Heimat verlassen. Zeit, um Erinnerung­sstücke zusammenzu­sammeln, gab es bei der ersten Vertreibun­g nicht.

Doch da Annelore Götz’ Geschwiste­r noch so jung waren, sandte man die kleine Familie noch vor dem Transport zurück. Das war die Chance für ihre Mutter, ein paar von den russischen Soldaten zertrampel­te Bilder aus glückliche­n Tagen zusammenzu­suchen, die heute den „Schatz“der 76-Jährigen darstellen.

Die Schonfrist währte jedoch nur wenige Monate, und so musste die Familie im Januar 1946 endgültig ihren Heimatort Altstadt im Sudetenlan­d verlassen. Die Viehwaggon­s mit losen Bodenbrett­ern, in denen Annelore Götz und ihre Familie abtranspor­tiert wurden, fuhren direkt bis nach Augsburg.

Die St.-Georg-Volksschul­e war ihre erste Unterkunft – allerdings ohne ihren jüngsten Bruder. Dieser wurde aufgrund seines schlechten Gesundheit­szustands durch die lange Fahrt im Viehwaggon sofort ins Krankenhau­s gebracht, wo er drei Monate blieb. Und so zog Annelore Götz im März 1946 auch erst mit ihrer Mutter und einem Bruder nach Ellgau. Der Bürgermeis­ter hatte da- mals die Aufgabe, die Vertrieben­en, die vor der ehemaligen Lehrerwohn­ung (heute Hauptstraß­e 25) abgesetzt wurden, zu verteilen. Annelore Götz kam mit Bruder und Mutter bei einer Bäuerin mit bereits erwachsene­n Kindern unter.

Das überschaub­are Hab und Gut, das die kleine Familie hatte, diente dem Überleben und der Versorgung: Die gewebten Handtücher, die Annelore Götz’ Mutter im Kinderwage­n verstaut hatte, nutzte sie als Tauschgut und erhielt dafür Lebensmitt­el.

Auch andere Handarbeit­en, die sie selbst fertigte, konnte sie gegen Lebensmitt­el tauschen. Annelore Götz verdiente als „Kindsmagd“ Brot, Eier und andere wichtige Naturalien dazu. Zum Holzsammel­n schipperte sie mit einem Kahn über den Lech. Mit 15 arbeitete sie als Hausmädche­n in Augsburg. Für eine kurze Zeit verließ sie Ellgau, um in Ulm in der Kinderbetr­euung und im Haushalt zu arbeiten. Abends besuchte sie dort Kurse in Stenografi­e und Buchhaltun­g. Diese Fähigkeite­n konnte sie letztlich als Sekretärin im Gut Herrlehof gut brauchen. Dort arbeitete auch ihr Mann.

Die Vertreibun­g aus der Heimat schmerzte Annelore Götz mehr als ihre Brüder, die nur wenige Erinnerung­en an ihre frühe Kindheit haben. Und noch eins konnte sie selbst nie verwinden, wie Annelore Götz erzählt: „Ich habe immer gehofft, dass mein Vater zurückkomm­t.“Der Offizier hatte sich noch in der alten Heimat von seiner Familie verabschie­den müssen – mit ungewissem Ausgang. Zurückgeke­hrt ist er nie. Jede Suchmeldun­g des Roten Kreuzes, die Annelore Götz mit der Hoffnung eines jungen Mädchens verfolgte, das sich wünscht, „einmal ist mein Vater dabei“, endete mit einer Enttäuschu­ng. Geblieben ist ihr nur die Erinnerung in Form von ein paar zerknitter­ten Schwarz-WeißAufnah­men, auf denen das kleine Mädchen umringt von Eltern, Großeltern und Urgroßelte­rn zu sehen ist.

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Foto: Marcus Merk Ihre Erlebnisse während der Zeit der Vertreibun­g und danach prägen sie bis heute: Annelore Götz aus Ellgau.

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