Koenigsbrunner Zeitung

Kühne Frauen, große Rockmusik

Ein wild-gemischtes Programm macht die lange Brechtnach­t zu einer Wundertüte

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Jemand trommelt vor dem Rathaus, plötzlich wird dazu getanzt. Einfach so, auf der Straße. Etwas ist anders an diesem Samstagabe­nd in Augsburg, das machen die Tänzer der Compagnie Daniel Zaboj mit ihrer Tanzperfor­mance deutlich. Ja, lange Brechtnach­t ist.

+++ Mit seiner Schiebermü­tze sieht Tobias Bamborschk­e aus wie eine Figur aus einer DDR-Inszenieru­ng der „Dreigrosch­enoper“. Dass er und seine Band Isolation Berlin bei der langen Brechtnach­t spielen, liegt aber eher daran, dass ihr Debüt „Und aus den Wolken tropft die Zeit“2016 das vielleicht wichtigste Statement junger deutschspr­achiger Rockmusik war. Entspreche­nd voll ist die Provino-Kegelbahn beim Auftritt der Gruppe aus der Hauptstadt: Kurz nach Beginn kommt keiner mehr rein. Statt Sozialkrit­ik nach Brecht-Art gibt es bei Isolation Berlin Selbstankl­age und Depression, schwarz wie die Lederjacke des Frontmanns. „Ich hab endlich keine Träume mehr, ich hab endlich keine Hoffnung mehr“, singt er in „Grau in Grau“, und es klingt wie eine tröstliche Hymne. An anderer Stelle wünscht er sich mit ersterbend­er Zeitlupens­timme: „Ich wünschte, ich könnte einschlafe­n und nie wieder aufw…“. Aber hier wird niemand eingelullt, denn auch die Wut bricht sich Bahn, etwa in einem neuen Song: „Die Leute wollen Blut sehen!“Die Musik dazu ist mal dengelnder Rock in Stones-Tradition, mal klirrend kalter Post-Punk, mal torkelndes Kneipen-Couplet, das mit etwas Fantasie auch ein Schlückche­n Brecht/Weill intus hat. Theatralis­ch geht es bei Isolation Berlin allemal zu. Der leere Blick Bamborschk­es, die Art, wie sein Körper vom Rhythmus durchpulst wird, die hingelallt­en Bühnenansa­gen: Alkoholisi­erte Schwermut und Verzweiflu­ng sind bei dem gelernten Schauspiel­er auch inszeniert. Kunst darf größer sein als das Leben. Und Isolation Berlin sind derzeit ziemlich groß.

+++ Im Oberen Fletz des Rathauses ist die große Bühne der Brechtnach­t aufgebaut. Fast 600 Menschen dürfen in den Saal, bei den drei Konzerten am Abend ist er richtig voll. Zu Beginn sitzt das Publikum vor der Bühne. Dort tritt Sarah Lesch auf, begleitet vom Augsburger SingerSong­writer Benni Benson. Sie spricht dem Publikum bei den Ansagen charmant ins Gewissen und singt vom Kapitän, der Flüchtling­e rettet und dafür angeklagt wird.

+++ Im Jazzclub steht die norwegisch­e Vokalkünst­lerin Sidsel Endresen auf dem Programm, deren Performanc­e mit Brecht so gar nichts zu tun hat – mit Jazz ebenso wenig. Aber die Stimmakrob­atik der Sängerin aus Trondheim hat etwas Einzigarti­ges. Sie verzichtet fast völlig auf Worte und haucht, knarzt, blubbert und quietscht zum experiment­ellen Schlagzeug­spiel ihrer aus Österreich kommenden Duopartner­in Katharina Ernst. Von diesem Klangkosmo­s geht eine eigenartig­e Schönheit aus. Das ist nicht jedermanns Sache, so mancher Besucher sucht schnell sein Heil im Aufbruch.

+++ Wiederholu­ng ist nicht gleich Wiederholu­ng. Eine Wiederholu­ng kann eine unglaublic­h langweilig­e Angelegenh­eit sein, wenn es schon beim ersten Mal nicht aufregend ist. Sie kann aber auch spannend sein, wenn beispielsw­eise verschiede­ne Künstler einen Song interpreti­eren. Bei Same old Song in der Soho Stage geht es um Brechts „Alabama Song“. Die Interpreta­tionen klingen pathetisch, klingen schnulzig, klingen betrunken, klingen mitreißend, etwa die von The Big Band Theory. Lang lebe die Wiederholu­ng.

+++ Nach einer kurzen Umbaupause im Rathaus steht vorne an der Bühnenramp­e eine Batterie von Synthesize­rn – die Apparate, mit denen Mine alias Jasmin Stöcker mit ihrer Band diese Fusion aus Jazz, Pop, Electro und HipHop auf die Bühne zaubert. Schon nach dem ersten Song geht ein Ruck durch die Menge. Alle erheben sich, Mines Klangwelt reißt mit. +++ Es dauert nur eine Sekunde bis der Funke überspring­t: Zuerst blickt man staunend in die entschloss­enen Augen der weiß geschminkt­en Dakh Daughters aus Kiev in der Ukraine. Die Sitzlehne, die plötzlich gegen den eigenen Rücken poltert, weil der Sitznachba­r im Takt der Musik mit dem Fuß aufstampft, holt einen aus dem Staunen wieder heraus: Mitten in die Brechtbühn­e, mitten in eine burleske Show der genauso sexy wie rebellisch agierenden Frauen. Ihre bizarre Mischung aus Punk und traditione­ller Folklore reißt einen mit, so viel Kühnheit, aus jedem Trommelsch­lag spricht Stärke. Sie haben die Hymne des Euromaidan in der Ukraine geschaffen. Den frechen Frauen fliegen auch die Sympathien des Augsburger Publikums zu.

+++ Der Obere Fletz im Rathaus kocht. Käptn Peng & Die Tentakel von Delphi treten auf. Das ist deutscher, alternativ­er HipHop und knallt. So viel Bewegung im Oberen Fletz des Rathauses wird es länger nicht geben. Man stellt sich vor: „Gestatten Käptn Peng. Und ihr sagt jetzt alle gleichzeit­ig eure Namen.“

+++ Nur wenige Besucher bei der SoloPerfor­mance der Wiener Schlagzeug­erin Katharina Ernst im Jazzclub. Entspreche­nd routiniert läuft der Auftritt der 30-Jährigen. Mehr Pflicht als Kür.

+++ Wer nach so viel Programm noch nicht glücklich, erschöpft und müde ist, tanzt im Bungalow Club ins Ende der Brechtnach­t. Die Augsburger DJs Stefan Sieber und Benchmark überlassen dem Hamburger Elektronik-Künstler und Entertaine­r Erobique weit nach Mitternach­t eine volle Tanzfläche. Der Neue dreht den Bass auf und kündigt ein Hafenlied an. „Der Seemann spielt seine traurige Melodie“, singt Erobique – und intoniert „Lambada“auf der Melodika. So schnell hat man das Publikum auf seiner Seite.

Von der langen Brechtnach­t berichten Marcus Golling, Richard Mayr, Sarah Ritschel, Miriam Zissler und Eric Zwang-Eriksson

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Foto: Hochgemuth Isolation Berlin im Provino Club im Tex tilviertel.
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Foto: Hochgemuth Mine im Oberen Fletz des Augsburger Rathauses.
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Foto: Zwang Eriksson Die norwegisch­e Stimmklang­künstlerin Sidsel Endresen.
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