Koenigsbrunner Zeitung

Ein kleines Dorf war das Paradies seiner Kindheit

Ekkehard Machalke fühlte sich in der neuen Heimat gut aufgenomme­n. Doch seine Eltern standen vor dem Nichts / Serie

- VON JANA TALLEVI

Bobingen Wie sehr gerade auch kleine Kinder unter der Vertreibun­g litten, die sie doch gar nicht ganz verstehen konnten, das erzählt Ekkehard Machalke, der heute in Bobingen lebt.

„Ich bin im November 1941 in Liegnitz/Schlesien geboren. Ende Dezember 1945 mussten wir vor der anrückende­n Kriegsfron­t flüchten. Die Wirren der Flucht habe ich zusammen mit meiner dreieinhal­b Jahre älteren Schwester und meiner Mutter überstande­n. In Lübben (Spreewald) war ich dem Hungertod sehr nahe und Todesängst­e hatte ich, wenn geschossen worden ist.

Umso glückliche­r war ich, als wir im Sommer 1946 nach Hagenheim, einem kleinen Dorf mit etwa 100 Einwohnern im Landkreis Landsberg kamen. Als Kind empfand ich es als paradiesis­ch. Ich hatte mein eigenes Bett, musste nicht mehr im Freien, in Scheunen, Kasernen oder Schulen schlafen und konnte mich satt essen. Wir hatten großes Glück, dass wir bei einer Bauernfami­lie in einem kleinen Anbau zwei Zimmer bekamen. Wir waren mit ihr weitschich­tig verwandt. Mein Onkel hat vor dem Krieg eine Tochter aus dem Hof geheiratet. Wir waren die ersten Flüchtling­e in diesem Dorf und wurden von allen freundlich aufgenomme­n. Was für mich auch sehr wichtig war, ich kam endlich zur Ruhe, konnte im Sand spielen, mich vor das Haus setzen, die Wolken betrachten und „Engel“im Himmel sehen. Es war für mich eine Zeit der Erholung.“

Erst als Erwachsene­r konnte er wirklich nachempfin­den, was diese Zeit für ihn bedeutete. Und er weiß auch, dass seine Eltern ganz anders empfanden. In Liegnitz hatte der Vater von Ekkehard Machalke als Malermeist­er im Geschäft des Großvaters gearbeitet, hier standen sie vor dem Nichts.

„Mit meinem Vater kamen wir in Hagenheim wieder zusammen. Er hatte eine Arbeitsste­lle in Landsberg in einem Malergesch­äft. Mein Vater hat oft Tag und Nacht gearbeitet und bekam dafür manchmal ein Stück Seife oder eine kleine Tafel Schokolade. Von Verwandten und Freunden bekamen wir einige Sachen für den Haushalt. Zur Arbeit ging mein Vater neun Kilometer zu Fuß, teilweise sogar barfuß. Später hatte er ein Fahrrad.

Dass plötzlich ein Mann in unse- Familie war, der seine Erziehungs­aufgaben wahrnehmen wollte, daran musste ich mich erst gewöhnen. Es war für meinen Vater und für mich schwierig. Meine bisherige Bezugspers­on war meine Mutter. Auch meine Mutter war sehr fleißig. Wir gingen regelmäßig in den Wald zum Holz holen, Beeren und Pilze sammeln. Auf abgeerntet­en Feldern war Ähren lesen und Kartoffeln stoppeln angesagt. Auch ein kleiner Garten, ein paar Hühner (die wir in der Küche aufzogen) und Stallhasen trugen zum Lebensunte­rhalt bei. Wenn erforderli­ch, half meine Mutter den Bauern bei der Feldarbeit. Der Verlust der Heimat setzte ihr sehr zu. Ich sah sie oft weinen und einige Male hatte sie auch Nervenzusa­mmenbrüche.“

Dennoch integriert­en sich die Eltern von Ekkehard Machalke gut in die Dorfgemein­schaft, zudem war der Vater als Maler immer wieder gefragt. Für den Schützenve­rein bemalte er Schießsche­iben und ein besonderer Auftrag für ihn war das Bemalen der Maibaumfig­uren. Ich kann mich noch gut erinnern, dass es wochenlang in unserer Küche nach Farbe roch. Als Lohn dafür sammelte die Dorfjugend für den Maler. Wir konnten unser Glück nicht fassen, plötzlich so viele Eier, Mehl, Butter und Speck zu besitzen. Bei einem Bauern durften wir ein halbes Jahr lang einen Liter Milch holen.“Auch die Kinder selbst trugen mit Kühe hüten und Steine vom Feld sammeln zum Lebensunte­rhalt bei.

„Ich kann sagen, dass zu uns alle Dorfbewohn­er freundlich waren. Das war gegenüber anderen Flüchtling­en, die in großer Zahl dem Dorf zugewiesen worden waren, nicht immer der Fall. Eine Frau mit vier kleinen Buben erhielt bei einem stattliche­n Bauernhof keine Bleibe. Sie wurde bei einem anderen Bauern in einem ehemaligen Hühnerstal­l untergebra­cht.“

Dass die Situation auch für die einheimisc­he Bevölkerun­g nicht einfach war, erkennt Ekkehard Marer chalke rückblicke­nd durchaus an. Immerhin mussten die Menschen vor Ort nach dem Krieg von jenem „Wohlstand“, den sie retten konnten, etwas abgeben, damit kaum jemand hungern musste. „Dafür kann man nur ehrfürchti­g Danke sagen. Zeichen einer gelungenen Integratio­n und für uns eine besondere Ehre war, dass ich als kleiner Flüchtling­sbub bei der 900-Jahr-Feier von Hagenheim ein Gedicht aufsagen durfte, in dem ich mein bayerische­s Heimatland lobte.“

Und so ging es weiter mit dem damals noch kleinen Buben: „1949 zogen wir nach Grünsink, zwei Kilometer von Hagenheim entfernt, in eine ehemalige Militärbar­acke, die für zwölf Flüchtling­sfamilien hergericht­et wurde. Dort verbrachte ich eine herrliche Kindheit in freier Natur. Im September 1955 zogen wir nach Haunstette­n. Ich besuchte die zweijährig­e Handelssch­ule. Das war die schlimmste Zeit meines Lebens, weil ich all das, was ich in der Volksschul­e nicht lernen konnte, wir waren acht Klassen in einem Raum gewesen, nachholen musste. 1962 erwarben meine Eltern ein Reihenhaus und ich kaufte mit meiner Frau 1980 eine Doppelhaus­hälfte in Bobingen. Mein Berufslebe­n verbrachte ich als Beamter bei der Post und bei einer Bank.“

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Foto: Marcus Merk Ekkehard Machalke hat zusammen mit seiner Schwester und seiner Mutter die Wirren der Flucht überstande­n. Erst als Erwachsene­r wurde ihm so richtig klar, was diese Zeit für ihn bedeutet hat.

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