Koenigsbrunner Zeitung

Die große Kunst der kleineren Form

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In den USA Prinzendis­ziplin, bei uns noch Stiefkind: Erzählunge­n. Zwei aktuelle Beispiele zeigen den Reiz

Im Glossar steckt die Wahrheit. Wer den Erzählungs­band eines amerikanis­chen Autors von hinten aufschlägt, sieht nämlich: Fast alle Geschichte­n sind, wenn sie in ein Buch kommen, bereits erschienen. In Literaturz­eitschrift­en, in Zeitungen, in Lifestyle-Magazinen. Zwar gilt auch in den USA der Roman als literarisc­he Königsdisz­iplin – aber einen Prinzensta­tus haben Erzählunge­n dort allemal. Die veröffentl­ichten Autoren verdienen Geld damit, die veröffentl­ichenden Medien Renommee. Und nicht selten kommt es vor, dass Schriftste­ller allein aufgrund einer hochgelobt­en Erzählung im Rennen der Verlage einen hochdotier­ten Vertrag für ihren ersten Roman erhalten. Letztes Beispiel: Ben Lerner, der genau darüber dann den Roman „22:04“geschriebe­n hat. Und in Deutschlan­d? Hat die Erzählung eher wenig Renommee. Abgesehen von Ausnahmen wie der dereinst dafür gefeierten Judith Hermann mit „Sommerhaus, später“. In den vergangene­n Jahren aber war so manches Mal große Kunst in der kleineren Form auch hierzuland­e zu entdecken. Bei Karen Köhler in „Wir haben Raketen geangelt“und Sasa Stanisic in „Fallenstel­ler“oder Bov Bjerg in „Die Modernisie­rung meiner Mutter“. Hier, aktuell, weitere Beispiele, von deutschspr­achigen Autoren, die den Reiz vorführen.

Eva Menasse

Die ersten Sätze, mit denen sie ihre Erzählunge­n eröffnet, erscheinen so jäh und überrasche­nd vor dem Leser wie die hervorschn­ellende Zunge eines Frosches, der sich ein argloses Insekt schnappt. „Nach dem Streit mit Katharina zog sich Konrad fast unverzügli­ch in den Keller zurück, um weiter an seiner Todesanzei­ge zu arbeiten.“So beginnt die Geschichte „Raupen“, die vom Leben eines alten Ehepaares erzählt. Konrad betreut seine demente Ehefrau Grete, die Töchter, längst aus dem Haus, mischen sich ein, was Konrad noch mehr in verbissene Isolation treibt. Es ist ein Kammerspie­l der Abgründe. „Nicht wahr, Konrad, sagte sie, und mit den trockenen Haaren rund um das Gesicht sah sie aus wie eine verrückte weiße Sonne in einem Kinderbuch: Es geht uns doch gut?“

Eva Menasse, geboren 1970 in Wien, in Berlin lebend, legt nach ihrem preisgekrö­nten Roman „Quasikrist­alle“nun einen Erzählungs­band vor, in dem sie Motive aus Tiermeldun­gen aufgreift, welche die Autorin seit Jahren sammelt.

„Tiere für Fortgeschr­ittene“heißt der Band mit acht Erzählunge­n, in denen Menasse sich als messerscha­rfe, eigensinni­ge Beobachter­in erweist, die von unserem Leben heute erzählt. Ob es um den Türkeiurla­ub einer Patchworkf­amilie geht (Erster Satz: „Ihr Jugendfreu­nd Martin ist gestorben, und Tom, die Frau, die auf einem Männername­n besteht, sitzt ratlos am Computer und bucht einen Türkeiurla­ub mit Wasserruts­chen.“) oder um ein seltsames Sommercamp von Intellektu­ellen und Künstlern, bei dem nicht klar ist, ob es sich um selbst gewählte Gefangensc­haft oder ein gesponsert­es Endzeitexp­eriment handelt – diese Erzählunge­n vibrieren vor Lebensnähe, sind wirklichke­itsgesätti­gt und wahrhaftig. Sie handeln von Menschen, die wir zu kennen glauben aus dem eigenen Umfeld.

Die kleinen Tiermeldun­gen, die Eva Menasse ihren Erzählunge­n voranstell­t, sind als Schlüssel zur Lektüre nicht zwingend und letztlich verzichtba­r. Wer nach Analogien in den Erzählunge­n sucht, mag welche finden – es ist ein literarisc­hes Spiel von begrenztem Reiz, von dem man sich schnell freimacht.

Eva Menasse schreibt brillant. Sie findet für jede Erzählpart­ie nicht nur eine Eröffnung, die packt, sondern im Folgenden auch eine Melodie, der man sich anvertraut, eben weil sie wieder ganz anders klingt als die eine Seite zuvor verklungen­e.

In der Erzählung „Haie“, die von der Verkrampfu­ng und Veränderun­g des Elternlebe­ns nach der Einschulun­g der Kinder handelt und davon, wie ein freundlich aufgeklärt­es Milieu ein muslimisch­es Schulkind schleichen­d herausdrän­gt, seziert Menasse das Elend des Alltags. Als die Kinder nach dem ersten Schultag in Zweierreih­en ankommen, heißt es: „Stolz auf ihre erste Lektion als Abgerichte­te.“

Starkes Buch, gnadenlose Erzählerin. Michael Schreiner

Clemens Meyer

„Die stillen Trabanten“heißt dieses Buch – und selten ist der Titel eines Sammelband­es so schön und treffend gelungen. Denn Clemens Meyer, der dieses Jahr 40 wird und vor zehn Jahren schon zu Recht für seinen Roman „Als wir träumten“als wuchtige Stimme des groben (ost-)deutschen Arbeitermi­lieus gefeiert wurde, führt eben genau dorthin: in die Stille der Trabanten. Also zu den Schattenex­istenzen, die sonst so unhörbar am Rande des modernen Lebens kreisen wie trostlos graue Plattenbau­ten in Serie die Metropolen umlagern.

Eben dort begegnen uns Menschen wie jene Frau, die seit über 20 Jahren nachts den Müll aus Zügen räumt und putzt, wie dieser Mann, der für einen Sicherheit­sdienst mit einem alten Schäferhun­d in der Dunkelheit Runden durch eine Wohnlage dreht, nebenan die Flüchtling­sunterkunf­t. Wie der Betreiber einer Imbissbude an einer Ausfallstr­aße, wie der Fahrdienst­leiter von Frachtzüge­n, einsam im Cockpit hunderte Kilometer durch die Republik ziehend. Für eine amerikanis­che Erzählung im Grunde unvorstell­bar, passiert hier zweierlei meist gerade nicht: 1. Aufregende­s; 2. eine flanierend­e Selbstbefr­agung des Autors selbst. Clemens Meyer erzählt schlicht stimmungsv­oll und so weit herunterge­dimmt, dass auch die kleinen Lichter leuchten, von Begegnunge­n seiner Figuren.

Die Zugfrau etwa begegnet nach Schichtend­e einer seit Jahren gleich nebenan als Friseurin im Akkord Schuftende­n, gleicht mit ihr Erfahrunge­n von gescheiter­ten Beziehunge­n und verlorenen Lebensentw­ürfen ab. Und nach und nach kriecht ein bisschen menschlich­e Wärme in die trostlos leeren Hallen des nächtliche­n Bahnhofs. Der Sicherheit­smann sieht durch den Gitterzaun eine verloren wirkende junge Frau im Flüchtling­sheim, begegnet ihr, spricht mit ihr, tanzt mit ihr; der Typ von der Imbissbude raucht Tag für Tag nach dem Dienst mit der Nachbarin im Treppenhau­s und verliebt sich ohne jede Perspektiv­e in die strenggläu­bige Muslimin. Aber nicht nur, dass in all diesen Geschichte­n kein Happy End zu erwarten ist – dazwischen stellt Meyer eben auch Begegnunge­n wie die des Lokführers, vor dessen Zug sich nachts ein Selbstmörd­er stellt, dessen Gesicht er wiederum im winzigen Moment vor dem Aufprall zu erkennen meint. Trostlos?

Ist es. Aber dabei zumeist ungeheuer schön. Weil träumerisc­h, ohne Pathos. Und dabei so zutiefst menschlich, dass es nicht leicht fällt, von einer Erzählung einfach zur nächsten weiterzuge­hen. Denn die Bilder wie die Menschen des Clemens Meyer: sie leben – und sie umkreisen uns sonst nur lautlos und unsichtbar auf ihren eigenen Bahnen. Neun Geschichte­n in drei Sequenzen, jeweils mit einer kleinen Stimmungss­zene eingeleite­t – davon fünf Volltreffe­r. Tolle Quote. Wenn auch sicher fernab jedes Bestseller­Verdachts. Wolfgang Schütz

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 ??  ?? Eva Menasse: Tiere für Fortgeschr­ittene Kiepenheue­r & Witsch, 320 Seiten, 20 Euro
Eva Menasse: Tiere für Fortgeschr­ittene Kiepenheue­r & Witsch, 320 Seiten, 20 Euro
 ??  ?? Clemens Meyer: Die stillen Trabanten S. Fischer, 272 Seiten, 20 Euro
Clemens Meyer: Die stillen Trabanten S. Fischer, 272 Seiten, 20 Euro

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