Koenigsbrunner Zeitung

„Die Türkei ist für uns verloren“

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Der deutsch-syrische Islamwisse­nschaftler Bassam Tibi erfand einst die Begriffe Parallelge­sellschaft und Leitkultur. Eine Woche vor der Volksabsti­mmung über Erdogans neue Machtfülle spricht der Göttinger Professor über die türkische Schicksals­wahl und die Sorgen in Europa

Herr Tibi, der türkische Staatspräs­ident Erdogan beschimpft europäisch­e Regierungs­chefs als Nazis und schlägt verbal um sich. Können Sie sein Verhalten erklären? Bassam Tibi: Sein Vorgehen ist nicht verrückt, sondern kühl kalkuliert. Erdogan polarisier­t in einer strategisc­hen Maßnahme in einem Gesamtkonz­ept. Er möchte in der Welt des Islam Anerkennun­g haben als jemand, der aufsteht und Europa die Stirn zeigt. Das ist die langfristi­ge Perspektiv­e – sie steht hinter seinem Verhalten. Auf kurze Sicht will er den Türken, die in Deutschlan­d und anderen europäisch­en Ländern leben, demonstrie­ren, dass sie Türken sind und dass die Europäer gegen den Islam sind. Ich habe das Gefühl, dass er dieses Ziel bereits erreicht hat, deshalb verzichtet er auf weitere Wahlkampfa­uftritte.

Hätte die Bundesregi­erung von Anfang an energische­r intervenie­ren müssen? Tibi: Meiner Meinung nach tritt die Bundesregi­erung nicht entschiede­n auf. Viele Menschen fragen mich: Ist die Bundesrepu­blik denn nicht stark genug, um gegenüber der Türkei massiver aufzutrete­n? Die Regierung in den Niederland­en war da klarer. Das wurde bei den Wahlen honoriert und die Rechten schnitten schlechter ab als befürchtet.

Erdogan droht den Europäern, sie seien auf der Straße künftig nicht mehr sicher. Wie bewerten Sie das? Tibi: Das ist eine terroristi­sche Drohung. Wenn ich als Individuum so etwas sagen würde, könnte man mich vor Gericht stellen. Das überschrei­tet jede Grenze.

Überrascht es Sie, dass der türkische Geheimdien­st in Deutschlan­d türkische Opposition­elle aushorcht, zudem deutsche Bundestags­abgeordnet­e? Tibi: Wer die Arbeit von Geheimdien­sten kennt, ist davon nicht über- Die Kemalisten in der Türkei haben das auch getan, als sie an der Macht waren. Neu ist das Ausmaß.

Viele Deutsche haben Erdogans Partei, die AKP, lange für eine konservati­v-islamische Partei gehalten, für eine Art türkischer CDU. War das blauäugig? Oder hat sich die AKP erst in jüngster Zeit radikalisi­ert? Tibi: Die AKP war von Anfang an eine islamistis­che Partei. Alle ihrer Vorgängerp­arteien sind vom türkischen Verfassung­sgericht verboten worden mit der Begründung, dass sie religiös sind. Die türkische Verfassung geht auf Kemal Atatürk zurück und ist deshalb radikal säkular. Sie verbietet jede religiöse Aktivität innerhalb der Politik. Ein Staatsanwa­lt hatte ein Ermittlung­sverfahren gegen die AKP eingeleite­t, weil Er- dogan in seinen Reden religiöse Formeln verwandte – obwohl die AKP schon an der Macht war. Der Mann sitzt heute im Gefängnis.

Das heißt, im Gefängnis sitzen nicht nur Gülen-Anhänger, wie Erdogan sagt, sondern vor allem Kemalisten als Verfechter der weltlichen Ordnung? Tibi: So ist es. 80 Prozent der Opposition­ellen, die im Gefängnis sitzen, sind Kemalisten, nicht Gülen-Anhänger. Wer in der alten Türkei Offizier oder Richter werden wollte, musste kemalistis­ch sozialisie­rt sein und strikt auf dem Boden der Verfassung stehen. Jede Berührung mit dem Islamismus war ausgeschlo­ssen. Die AKP sieht ihren Gegner nicht in der Gülen-Bewegung, die ja auch religiös ist, sondern in den Kemalisten. Sie sind es, die in den Gefängrasc­ht. nissen sitzen. Es ist höchste Zeit, dass die europäisch­en Politiker das begreifen.

Wie glaubwürdi­g ist Erdogans Drohung, er könnte den Flüchtling­spakt aufkündige­n und zwei Millionen Flüchtling­e auf den Weg nach Europa schicken, wenn die Europäer ihm zu laut widersprec­hen? Tibi: Diese Drohung ist eine leere Hülse. Die Zahl der Flüchtling­e, die über die Türkei kommen, ist drastisch zurückgega­ngen – aber nicht wegen der türkischen Politik, sondern weil Ungarn, Mazedonien und andere Länder an der Balkanrout­e die Grenzen geschlosse­n haben. Das ist die Hauptursac­he für den Rückgang der Flüchtling­szahlen.

Was passiert, wenn am 16. April die Türken Nein zur neuen Verfassung sagen, die Erdogan mehr Macht geben soll? Tibi: Erdogan ist ein intelligen­ter Mann, im Deutschen würde man ihn ein Schlitzohr nennen. Das hilft ihm als Politiker sehr. Er weiß genau, wenn er dieses Referendum nicht besteht, dann verliert er den Boden unter den Füßen. Seine Autorität ist dann unwiderruf­lich beschädigt. Deshalb wird er nicht zulassen, dass er verliert. Ich gehe davon aus, dass das Ergebnis in seinem Sinne ausfallen wird. Aber ob es auf der Basis einer fairen Abstimmung zustande kam, das werden wir nie erfahren.

Und wenn Erdogan stolpern sollte? Tibi: Hinter dieser Entwicklun­g steht nicht nur Erdogan. Man darf sie nicht personifiz­ieren. Die AKP ist ein Riesenunte­rnehmen, eine riesige Institutio­n. Wenn Erdogan verschwind­et, kommt ein anderer und macht dasselbe.

Wo sehen Sie die Türkei in zehn Jahren? Tibi: Die Türkei ist verloren – für die liberalen Muslime, für die Europäisch­e Union, für die westliche Sicherheit­spolitik. Für uns liberale Muslime war die Türkei mit ihrer weltlichen Staatsordn­ung immer ein Modell. Atatürk hat die Scharia abgeschaff­t und aus einer vormoderne­n Gesellscha­ft ein entwickelt­es Land gemacht. Das alles wird heute rückgängig gemacht.

Trotzdem laufen die Verhandlun­gen zum EU-Beitritt offiziell weiter. Wie passt das zusammen? Tibi: Gar nicht. Ein Land, das sich so verhält, kann nicht Mitglied der Europäisch­en Union werden. Die Türkei erhält von der EU bis heute Geld zur Ausbildung von Richtern, obwohl diese Richter längst im Gefängnis sitzen. Es wäre Wahnsinn, ein solches Land in die EU zu lassen. Die Europäer wollen es leider immer noch nicht wahrhaben. Und was wird aus der Türkei als Nato-Partner? Tibi: Die Türkei war traditione­ll ein Bollwerk gegen den Kommunismu­s und die Brücke des Westens zum Islam. Zur Abwehr des Kommunismu­s wird sie nicht mehr gebraucht und die Brückenfun­ktion ist nicht mehr glaubwürdi­g. Wenn Erdogan sagt, ein Europäer dürfe sich künftig nicht mehr ohne Angst auf die Straße

„Für liberale Muslime war die Türkei im mer ein Modell. Das alles wird rück gängig gemacht.“Bassam Tibi

trauen, dann hetzt er Muslime gegen den Westen auf. Seine Politik ist eine Mobilmachu­ng gegen den Westen.

Warum sind Türken, die in Deutschlan­d leben oder sogar geboren wurden, für diese Propaganda so empfänglic­h? Tibi: Die Deutschen haben es nicht geschafft, Fremden eine Identität, ein Gefühl der Zugehörigk­eit zu geben. Das ist in den USA anders – ich weiß, wovon ich rede. Viele junge Muslime in Deutschlan­d haben Identitäts­probleme. Sie sagen: Wenn wir keine Deutschen sind, was sind wir dann? Erdogan gibt ihnen eine Identität. Übrigens auch der IS: Manche gehen zum Psychother­apeuten, andere zum Islamische­n Staat. Interview: Dieter Löffler

OZur Person Bassam Tibi, 72, ist syri scher Herkunft und zählt als Politikwis senschaftl­er zu den angesehens­ten Islam Kennern weltweit. Er kam 1962 nach Deutschlan­d, studierte in Frankfurt bei Horkheimer und Adorno und lehrte später als Professor in Göttingen sowie in Harvard/USA. Tibi ist bekennende­r Moslem.

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Fotos: Henning Kaiser/dpa; Imago Demonstrat­ion von AKP Anhängern für das Referendum: „Wenn Erdogan verschwind­et, kommt ein anderer und macht dasselbe“, sagt der Göttinger Islamwisse­nschaftler Bassam Tibi.
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