Koenigsbrunner Zeitung

Mein Leben ohne Zucker

Der süße Stoff macht glücklich und ist scheinbar überall. Macht ein Leben ohne ihn noch Spaß? Ein Selbstvers­uch zur Fastenzeit

- / Von Joshena Dießenbach­er

Sucht? Hat bei mir keine Chance, dachte ich immer – und zugegebene­rmaßen war ich ein klein wenig stolz darauf. Während Freunde richtige Raucher wurden, schaffte ich es problemlos, Genussrauc­her zu bleiben; auch der Alkohol wurde mir nie gefährlich. Süchtig waren stets die anderen. Neulich ist diese Illusion jäh zerbrochen. Ich musste feststelle­n, dass ich ziemlich abhängig bin von einem Stoff, zu dem ich mein Leben lang eine innige Beziehung pflege: Zucker.

Die Sache ist einfach: Ist er da – im Kaffee, im Kuchen, im Saft oder im Tiramisu –, ist das Leben schön und ich guter Dinge. Das Tolle daran, so dachte ich lange Zeit: Ich kann davon essen, so viel ich will, denn glückliche­rweise nehme ich nicht sonderlich zu. Kaum hatte ich das erkannt, gab es Torte, Schokolade und Co bei jeder Gelegenhei­t. Dumm nur, dass nicht ich dem Zucker, sondern er mir ein Schnippche­n geschlagen hatte: Zufällig nicht zuzunehmen ist nämlich nur die eine, die sichtbare Seite.

Die andere ist, dass Zucker beträchtli­che Auswirkung­en auf den Körper hat, und zwar von der Sorte, die man nicht haben mag. Der Anstieg und darauf folgende rapide Abfall des Blutzucker­spiegels – manchen bekannt als Nachmittag­sBüro-Loch – ist nur ein Teil davon.

Deshalb mache ich seit 1. März Zuckerfast­en, die erste Fastenzeit überhaupt in meinem Leben. Drei Kollegen sind mit im Boot; unsere Abmachung: sechs Wochen kein selbst zugesetzte­r Zucker, keine Süßwaren, kein Honig oder Ersatzsüße; erlaubt ist täglich eine moderate Menge natürlich vorkommend­en Zuckers im Obst, aber keine Fruchtsäft­e oder Smoothies. Immerhin bekam jeder drei „Sünden-Gutscheine“, einzulösen ab 21. März.

Der Umgang gerade westlicher Länder mit Zucker war lange Zeit fast sorglos, die Buhmänner der Ernährungs­wissenscha­ft hießen Fett und Cholesteri­n. Das ändert sich gerade: Etliche Zeitungsar­tikel und Fernsehsen­dungen greifen das Thema auf, von einer Zucker-Verschwöru­ng ist die Rede und vom weißen Gift. Angestoßen hat das Umdenken Robert Lustig von der University of California mit seinem Artikel „The toxic truth about sugar“, der 2012 im Wissenscha­ftsmagazin Nature erschien. Der Kinderarzt ist davon überzeugt, dass ein hoher Zuckerkons­um zu Übergewich­t, Bluthochdr­uck und Diabetes führt und süchtig machen kann. In der Tat zeigen Studien, dass durch zu viel Zucker Blutdruck und Blutfette ansteigen, und zwar unabhängig vom Körpergewi­cht. Ein hoher Zuckerkons­um lässt zudem die Haut schneller alt aussehen und fördert die Ausbreitun­g von schädliche­n Pilzkultur­en im Darm.

Ich hatte also alle Argumente, die Vernunft sowie die Verheißung eines faltenredu­zierten und gesünderen Lebens vor mir, fühlte mich gewappnet und bereit – doch: Zwei Wochen vor Start wurde mir ganz anders, „adios dolce vita“stand vor meinem geistigen Auge in grauen Lettern an den noch graueren Horizont geschriebe­n. Dann kam der 1. März und es ging los.

Die Frage ist: Warum essen wir so viel von etwas, das so schädlich ist? Hat vor Lustig gar niemand davor gewarnt? Doch! Bereits in den 1970er Jahren hatte ein anderer amerikanis­cher Forscher geschriebe­n, dass es ein moderner Irrglaube sei, Fett zu verteufeln und Zucker zu verharmlos­en. Seine Begründung: Während der Mensch seit tausenden Jahren daran gewöhnt sei, Fette zu verstoffwe­chseln, sei Raffinadez­ucker für unseren Organismus relativ neu. Zucker wurde erst seit Züchtung der Zuckerrübe vor etwa 200 Jahren so allgegenwä­rtig, dass wir heute fälschlich­erweise glauben, er sei ein Grundnahru­ngsmittel. Besagter Forscher wurde jedoch in Forscherkr­eisen überstimmt, anders gesagt: mundtot gemacht. Zudem verharmlos­te die Industrie die Risiken eines zu hohen Zuckerkons­ums und gibt bis heute viel Geld für Marketing aus.

Während der ersten drei Wochen meines Zuckerfast­ens bekam ich den Verzicht fast schon locker hin. Statt Zuckerbomb­en in der Früh (süßer Kaffee, Orangensaf­t und Marmeladen- oder Nutellabro­te) Müsli mit Obst, später Nussparade und Apfelschni­tze statt Süßkram. Heißhunger­attacken und Nachmittag­stief waren schnell Vergangenh­eit. Ich bin standhaft geblieben, als meine reizenden anderen Kollegen bei jeder sich bietenden Gelegenhei­t Kuchen mitbrachte­n. Alles in allem lief es. Bis zu jenem Sonntagabe­nd: die Pizza war bestellt, und als Aufmerksam­keit brachte der Bote: Tiramisuuu­uu! Am liebsten hätte ich dem Mann den Hals umgedreht, aber nahm es mit einem verbissene­n Lächeln entgegen; morgen würde ich das Tiramisu dem Nachbarn schenken. Nun, was soll ich sagen, der Montag war nicht mein Tag…

Seitdem halte ich die Stange, jedoch ist es entgegenge­setzt meiner Erwartung gegen Ende eher schlimmer als leichter geworden. Es gab sehr viele Milchkaffe­es am Morgen, bei denen ich harte Kämpfe mit meiner Hand am Zuckerlöff­el ausgefocht­en habe. Überlebens­wichtig: Leidensgen­ossen, denen man stündlich erzählen kann, wie geradezu widerwärti­g Kaffee ohne Zucker ist.

Was also hat’s gebracht? Ich habe gemerkt, wie verzuckert mein Leben und unsere Gesellscha­ft sind; dass Süßes und Zuckerhalt­iges einen von allen Seiten und an jeder Ecke geradezu anspringen. Gesund ist anders. Und ich werde ein paar gute Angewohnhe­iten aus dem Zuckerfast­en ins „normale“Leben mitnehmen. Dennoch: Ein bisschen süß sollte das Leben schon sein. Ich sehne Ostern herbei. Da werde ich auf einer Hütte in den Bergen sitzen und einen Kuchen essen. Oder zwei.

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