Koenigsbrunner Zeitung

Richter haben keinen Plan: Neuer Prozess

- VON HOLGER SABINSKY WOLF

Münchner Schwurgeri­cht begeht einen groben Formfehler. Das hat gravierend­e Folgen. Ein Verfahren um versuchten Totschlag muss neu aufgerollt werden. Ist das nur der Anfang?

München/Augsburg Es schien ein normaler Strafproze­ss um einen versuchten Totschlag zu sein. Erkan G., 30, hatte bei einem Streit in einer Tabledance-Bar drei Männer mit einem Messer schwer verletzt. Er wurde zu achteinhal­b Jahren Haft verurteilt. Doch das Münchner Schwurgeri­cht hat eine kleine, aber entscheide­nde Formalie übersehen. Und das hat nun ernste Folgen.

Der Totschlags­prozess muss neu aufgerollt werden. So hat der Bundesgeri­chtshof (BGH) über die Revision von G.s Verteidige­r Adam Ahmed entschiede­n. Denn die Schwurgeri­chtskammer hat es zweieinvie­rtel Jahre lang versäumt, formell festzulege­n, welcher Richter für welche Verfahren zuständig ist. Anwalt Ahmed hatte dies bereits während des Prozesses herausgefu­nden und moniert. Doch er kam damit weder beim Landgerich­t noch beim Oberlandes­gericht durch.

Und so mussten sich die höchsten Richter in Karlsruhe mit dem Fall beschäftig­en. Es kam heraus, dass die 1. Strafkamme­r des Landgerich­ts München I in den Jahren 2012 und 2014 sowie im ersten Quartal des Jahres 2015 ohne gültigen Geschäftsv­erteilungs­plan arbeitete. Gerichtssp­recherin Barbara Stockinger räumt den „Fehler“ein. Der Vorsitzend­e Richter Michael Höhne hatte es schlichtwe­g vergessen. Mit diesem Plan muss laut Gesetz zu Anfang jeden Jahres schriftlic­h festgelegt werden, welcher Richter bei neu eingehende­n Verfahren zuständig ist. Üblich ist, dass die Verteilung anhand der Endziffern in den Aktenzeich­en erfolgt: Ein Richter übernimmt die geraden, einer die ungeraden Zahlen. Früher wurde nach Buchstaben verteilt. Durch das daraus resultiere­nde Zufallspri­nzip sollen Manipulati­onen verhindert werden. Doch genau diese Beschlüsse gab es in München für die genannten Zeiträume nicht. Erst am 16. April 2015 wurde der Fehler korrigiert und ein schriftlic­her Beschluss gefasst.

Mit dem Versäumnis hat das Schwurgeri­cht gegen das Grundgeset­z verstoßen. Dort ist in Artikel 101 garantiert, dass nur sogenannte gesetzlich­e Richter befugt sind, Urteile zu fällen. Und wer der gesetzlich­e Richter ist, regelt der Geschäftsv­erteilungs­plan.

Das Landgerich­t betont, es sei in der Strafkamme­r mündlich festgelegt worden, dass der Geschäftsv­erteilungs­plan vom Vorjahr weiter gelte. Es sei also nicht ohne rechtliche Grundlage gearbeitet worden. Doch der BGH lässt diese Argumentat­ion nicht gelten. Verteidige­r Ahmed spricht von „objektiver Willkür“.

Nun ist es so, dass das Münchner Schwurgeri­cht in den betroffene­n Zeiträumen etliche Urteile in Prozessen um Mord und Totschlag gefällt hat. Die spannende Frage ist, ob weitere Fälle neu verhandelt werden müssen. Das wird von Gericht und Anwalt Ahmed kontrovers gesehen. „Wir rechnen nicht mit weiteren Verfahren“, sagt Gerichtssp­recherin Stockinger. In anderen Fällen hätten die Verteidige­r im Verfahren keine Beschwerde­n eingelegt oder die Urteile nicht mit der Revision angegriffe­n. Einen gesetzlich­en Grund für die Wiederaufn­ahme eines Verfahrens sieht Stockinger im Fehlen eines schriftlic­hen Geschäftsv­erteilungs­plans nicht.

Das sieht Ahmed anders: „Es geht hier immerhin um einen Verfassung­sverstoß“, sagt der unbequeme Anwalt aus München, der in Augsburg als Verteidige­r von VanessaMör­der Michael W. und Polizisten­mörder Raimund Mayr bekannt geworden ist. Die Tatsache, dass seinem Mandanten sehenden Auges der gesetzlich­e Richter entzogen worden sei, hält er für einen „veritablen Wiederaufn­ahmegrund“.

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Foto: Matthias Balk, dpa Welcher Richter ist für welches Verfahren zuständig? Weil das nicht formell festge legt wurde, gibt es am Landgerich­t München nun Probleme.

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