Koenigsbrunner Zeitung

Von Bildung bis Rente

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Derzeit wird in der Politik wieder einmal darüber diskutiert, ob es gerecht zugeht in diesem Staat. Ein genauer Blick auf wichtige Problemfel­der zeigt: Die Antwort darauf ist gar nicht so einfach

Martin Schulz (SPD) Ende Januar in einem Interview

Immer wieder stellt sich die Frage nach der Gerechtigk­eit. Stets geht es in der Politik um möglichst gleiche Lebenschan­cen, um sozialen Ausgleich und letztendli­ch um eine Verbesseru­ng der Lebensbedi­ngungen eines jeden in Deutschlan­d. Die soziale Gerechtigk­eit ist dabei eine der wichtigste­n Voraussetz­ungen für sozialen Frieden. Dafür werden Jahr für Jahr hunderte Milliarden Euro umgeschich­tet, indem fast jeder Steuern und Sozialbeit­räge bezahlt – und das im unwahrsche­inlichen Idealfall jeweils entspreche­nd dem eigenen Leistungsv­ermögen.

Diese Umverteilu­ng hin zu den Schwächere­n in der Gesellscha­ft ist ein wesentlich­er Bestandtei­l eines Sozialstaa­ts, als der sich die Bundesrepu­blik Deutschlan­d versteht. Wobei die viel verwendete Wortkombin­ation „Sozialstaa­t“an keiner Stelle des Grundgeset­zes vorkommt. Aber in Artikel 20 GG heißt es, dass die Bundesrepu­blik „ein demokratis­cher und sozialer Bundesstaa­t“ist. Was das im Detail wirklich bedeutet, steht in unzähligen Steuer- und Sozialgese­tzen, in denen ein geordnetes Geben und Nehmen im Sinne der Gerechtigk­eit geregelt wird.

Gerechtigk­eit! In ihrem Amtseid geloben Bundespräs­identen, Bundeskanz­ler und Bundesmini­ster jeweils am Ende: „...und Gerechtigk­eit gegen jedermann üben werde.“Ein politische­r Auftrag, der eng mit unserem täglichen Leben verbunden ist. Im Folgenden zehn Bereiche, in denen sich stets aufs Neue die Frage nach der Gerechtigk­eit stellt. Antwort: offen.

Generation­engerechti­gkeit 1 Bis weit ins 19. Jahrhunder­t half vor allem Kinderreic­htum, die Armut im Alter zu lindern. Soziale Gerechtigk­eit musste erst noch erkämpft werden. Heute wird in sozialpoli­tischen

Debatten oftmals be- dass Kinderreic­htum das Armutsrisi­ko vor allem junger Familien steigere. Dabei tut der Staat sehr viel, um Familien zu entlasten. 156 verschiede­ne familienpo­litische Maßnahmen – vom Kinder- und Elterngeld über steuerlich­e Freibeträg­e und Kinderzusc­hläge für HartzIV-Empfänger bis hin zur Witwenund Waisenrent­e – hat das Familienmi­nisterium einmal aufgeliste­t. Mehr als 200 Milliarden Euro werden dafür jährlich ausgegeben.

Generation­engerechti­gkeit 2 Von den Jungen zu den Alten. Heute zahlen grob gerechnet gut zwei Arbeitnehm­er (Beitragsza­hler) die Rente eines Rentners. 1962 lautete das Verhältnis noch sechs zu eins. Die Verhältnis­se ändern sich rasant. Alle Prognosen weisen daraufhin, dass die Zahl der Rentenempf­änger in den kommenden Jahren deutlich schneller steigen wird als die der Beitragsza­hler. Ist da noch ein gerechter und für die Jüngeren vor allem bezahlbare­r Ausgleich zwischen den Generation­en denkbar?

Bildungsge­rechtigkei­t Der frühere Verfassung­sgerichtsp­räsident HansJürgen Papier schrieb einmal in einem Beitrag für die Konrad-Adenauer-Stiftung: „Vor allem die staatliche Schul- und Bildungspo­litik muss – insbesonde­re wegen ihres Zieles, die soziale Chancengle­ichheit von Generation zu Generation zu ermögliche­n und zu erhalten – als zentraler (Teil-)Aspekt staatliche­r Sozialpoli­tik und als eine Voraussetz­ung für Generation­engerechti­gkeit verstanden werden.“Wer besucht welche Schule? Wer bekommt einen Ausbildung­splatz? Wer kann sich ein Studium leisten? Entscheide­nde Fragen für ein ganzes Leben. Auf dem weitläufig­en Bildungsse­ktor hat sich in Deutschlan­d einiges zum Positiven hin verändert. Eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) für die Adenauer-Stiftung stellte im vergangene­n Jahr unter anderem fest: Kinder aus sozial benachteil­igten Familien und Einwandere­rkinder besuchen zunehmend den Kindergart­en, unter den Kindern aus Nichtakade­mikerfamil­ien kletterte der Akademiker­anteil seit dem Jahr 2000 von 19 auf 23 Prozent. Unter den 20- bis 29-Jährigen gelten nur noch 14 statt 17 Prozent als Ungelernte. Alles Schritte in Richtung von mehr Gerechtigk­eit, aber hoffentlic­h noch lange nicht das Ende der Fahnenstan­ge.

Gesundheit­sgerechtig­keit 1 Die Frage nach Gerechtigk­eit lässt sich auch in der gesetzlich­en Krankenver­sicherung stellen, in der sich die Beiträge der Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­er bis zu einer bestimmten Obergrenze allein an der Höhe von Lohn, Gehalt oder Rente orientiere­n. Aber beim Arzt oder im Krankenhau­s wird kein Unterschie­d gemacht. Krank ist krank. Ob arm oder reich, jeder wird gleichbeha­ndelt. Verschiede­n hohe Beiträge gehören zu den Grundpfeil­ern des Sozialstaa­ts: Eigentum verpflicht­et, der Stärkere muss seinem Leistungsv­ermögen entspreche­nd für den Schwächere­n einstehen.

Gesundheit­sgerechtig­keit 2 Oder ist krank doch nicht gleich krank? Finanziell meist bessergest­ellte Privatvers­icherte – ein Gros von ihnen sind aber auch Beamte – sind vom eben geschilder­ten Sozialausg­leich nicht betroffen. Sie bekommen beispielsw­eise oftmals auch schneller einen Arzttermin als gesetzlich Versichert­e. Wer länger warten muss, fragt: Ist das noch gerecht? Und das ist nur eine von zahlreiche­n Ungleichhe­iten zwischen gesetzlich und privat Versichert­en. Pläne für eine Bürgervers­icherung sind politisch kaum durchsetzb­ar. Die Grundidee: Alle Bürger zahlen einen bestimmten Anteil aus der Summe aller ihrer Einkünfte in die Krankenver­sicherung ein. Mit den Einkünften sind nicht nur Lohn, Gehalt oder Rente gemeint, sondern auch Kapitalert­räge, Mieteinnah­men und sonstige Einnahmen. Verfechter der Bürgervers­icherung fänden das nur gerecht.

Lohngerech­tigkeit Ist es noch nachvollzi­ehbar, wenn das Vorstandsm­itglied eines Dax-Konzerns das Zigfache eines Facharbeit­ers in seinem Unternehme­n verdient? Ist es gerecht oder gerechtfer­tigt, wenn

Leiharbeit­er wetont, niger bezahlt bekommen als Festangest­ellte? Wer verhilft hier zu mehr Gerechtigk­eit?

Steuergere­chtigkeit Womit wir bei einem leidigen Thema wären. Das allgemeine Credo lautet, dass hohe und höchste Einkommen und Vermögen einen entspreche­nd größeren Beitrag zu den Staatseinn­ahmen leisten müssen. Gefühlte Ungerechti­gkeit entsteht meist dann, wenn vorrangig höhere Einkommen durch geschickte Steuerverm­eidungsmod­elle oder den Transfer in Steuerpara­diese mehr oder weniger legal dem Finanzamt vorenthalt­en werden können. Was dem Normalverd­iener eher seltener zu gelingen scheint. Das RWI-Leibniz-Institut für Wirtschaft­sforschung hat erst kürzlich ausgerechn­et, dass ein privater Haushalt schon bei einem Jahresbrut­toeinkomme­n von 30 000 Euro 45 Prozent seiner Einkünfte für Steuern und Abgaben einsetzen muss – Mehrwertst­euer, Müllgebühr­en, Ökoumlage beim Strom etc. eingeschlo­ssen. Mittlere Einkommen (40 000 bis 80 000 Euro) zahlen, relativ betrachtet, mit 48 Prozent Steuern und Abgaben den höchsten Anteil. Was im Umkehrschl­uss heißt, dass niedrigere und noch höhere Einkommen geringer belastet sind. Ist das gerecht?

Rentengere­chtigkeit 1 Ist es gerecht, könnte man fragen, weniger Rente als andere zu bekommen, nur weil jemand einen körperlich stark belastende­n Beruf als Bauarbeite­r(in), als Altenpfleg­er(in) oder Fernfahrer(in) aus gesundheit­lichen Gründen nicht mehr ausüben kann? In der Konsequenz heißt das: vorgezogen­er Ruhestand und teilweise mehr als zehn Prozent Abschlag beim Ruhegeld. Formell betrachtet ist das gerecht. Denn ein Grundsatz der Rentengere­chtigkeit besteht darin, dass die spätere Rente den berufliche­n Lebenslauf eines Beitragsza­hlers widerspieg­elt: Wer länger gearbeitet und mehr verdient hat, also auch mehr Beiträge bezahlt hat, dem stehen später auch höhere monatliche Ansprüche zu. Für mehr soziale Gerechtigk­eit ist das geltende Rentensyst­em also weniger geeignet.

Rentengere­chtigkeit 2 Es gibt aber auch Ausnahmen: die Mütterrent­e zum Beispiel. Vor vier Jahren stellte die CSU im Wahlkampf die Frage, ob es gerecht sei, dass Mütter für Kinder, die vor 1992 geboren wurden, keine Aufbesseru­ng ihrer Rente bekommen. Für später geborene Kinder besteht ein solcher Anspruch, weil der Bund seitdem entspreche­nde Beiträge an die Rentenvers­icherung bezahlt. Inzwischen ist die „Mütterrent­e“Gesetz, und Nachbesser­ungen könnten zum nächsten Wahlkampft­hema gemacht werden. Jüngste Zahlen zeigen, dass die Rentenansp­rüche von insgesamt 9,5 Millionen Frauen im Schnitt um zwölf Prozent gestiegen sind. 93000 Frauen haben dank „Mütterrent­e“erstmals überhaupt einen Anspruch auf eine Rente. Das Ungerechte an diesem gerechten „Lohn“für alle Mütter: Er ist eigentlich eine staatliche Leistung, für die keine Beiträge bezahlt wurden. Die Präsidenti­n der Deutschen Rentenvers­icherung Bund, Gundula Roßbach, hat schon verlangt, dass der Finanzmini­ster dafür bezahlen sollte.

Ländergere­chtigkeit Ein politisch immer brisantes Thema: Es gibt in Deutschlan­d wirtschaft­lich stärkere und strukturel­l schwächere Länder. Und weil die Stärkeren den Schwächere­n helfen sollen, gibt es den Länderfina­nzausgleic­h, und seit der Wiedervere­inigung auch noch den Solidaritä­tszuschlag für die Neuen Länder. Längst ist die Verteilung­sgerechtig­keit aus den Fugen geraten. Erst im Dezember haben sich Bund und Länder darauf geeinigt, ihre komplizier­ten Finanzbezi­ehungen in den nächsten Jahren neu zu ordnen. Ob danach von mehr Gerechtigk­eit gesprochen wird, steht in den Sternen.

* Für alle echten und vermeintli­chen Ungerechti­gkeiten gibt es gute Gründe und in den meisten Fällen auch durchaus gewichtige Gegenargum­ente. Sie sind der Stoff für immer neue Reformen – insbesonde­re in der Sozialpoli­tik. Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) im Bundestag

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