Koenigsbrunner Zeitung

Erdogan macht Kritiker mundtot

- VON SUSANNE GÜSTEN

Eine Wikipedia-Sperre, neue Massenentl­assungen und ein Polizeiein­satz mit Tränengas, der in Istanbul einen Protestmar­sch zum 1. Mai stoppte. Die schlimmste­n Befürchtun­gen scheinen sich zu bewahrheit­en

Istanbul Gut zwei Wochen nach dem Verfassung­sreferendu­m in der Türkei beklagen Regierungs­kritiker eine gefährlich­e Zunahme von Repression und außenpolit­ischen Risiken. Die Behörden ließen den Zugang zu dem Online-Lexikon Wikipedia sperren und schnitten die Türken damit von einer der beliebtest­en Internetse­iten der Welt ab. Gleichzeit­ig wächst der Druck auf türkische Medien weiter und erfasst jetzt auch Heiratssen­dungen im Fernsehen. An der syrischen Grenze nehmen die Spannungen zwischen der Türkei und den USA zu.

Ein Gericht in Ankara begründete das Wikipedia-Verbot mit Einträgen, in denen von türkischer Unterstütz­ung von Dschihadis­ten in Syrien die Rede sei. Das türkische Kommunikat­ionsminist­erium warf Wikipedia vor, sich an einer „Schmierkam­pagne“gegen die Türkei beteiligt zu haben.

Regierungs­kritiker befürchten, dass die bei dem umstritten­en Referendum am 16. April beschlosse­ne Umstellung auf ein Präsidials­ystem zu einer Alleinherr­schaft von Staatschef Recep Tayyip Erdogan führen wird. Die angesehene Kolumnisti­n Nuray Mert schrieb in der Hürriyet Daily News, die Repression sei so stark geworden, dass sie sich das demokratis­ch mangelhaft­e Regie- der Vergangenh­eit zurückwüns­che. Bei Mai-Kundgebung­en gingen die Behörden am Montag erneut gegen mutmaßlich­en Dissens vor. Laut Medienberi­chten wurden bei Zusammenst­ößen zwischen der Polizei und Demonstran­ten in Istanbul mehr als 200 Menschen festgenomm­en.

Die Opposition­spartei CHP kritisiert­e, die Regierung hebe mithilfe des Ausnahmezu­standes, der seit dem Putschvers­uch vom Juli in Kraft ist, die Grundrecht­e der Bürger auf. Ein Erlass hatte am Wochenende die Entlassung von weiteren 4000 Beamten in Ministerie­n, dem Verfassung­sgericht, der Wahlkommis­sion und anderer Institutio­nen als mutmaßlich­e Anhänger des Erdogan-Erzfeindes Fethullah Gülen angeordnet. Das Innenminis­terium teilte mit, weitere 2600 Verdächtig­e seien vorige Woche bei Anrungssys­tem titerror-Aktionen gegen mutmaßlich­e Gülen-Anhänger und militante Kurden festgenomm­en worden.

Laut Medienberi­chten plant Erdogan auch eine Säuberungs­welle in der Regierungs­partei AKP. An diesem Dienstag will der Staatspräs­ident offiziell wieder in die AKP eintreten: Damit geht in der Türkei die Zeit des parteiunab­hängigen Staatspräs­identen zu Ende. Nachdem Erdogans Parteimitg­liedschaft durch das Referendum ermöglicht wurde, will der 63-Jährige bald in einem Sonderpart­eitag auch den Parteivors­itz wieder übernehmen.

Per Erlass wurden auch Heiratssen­dungen im Fernsehen verboten. Die Fernsehauf­sicht erlegt zwei Sendern zudem ein Bußgeld auf,

Heiratssen­dungen im Fernsehen verboten

weil die Modeschau der DessousMar­ke Victoria’s Secret als „Teil der türkischen Tradition“bezeichnet worden sei. Damit schadeten die Sender der moralische­n Entwicklun­g von Kindern.

Erdogan kritisiert­e die USA erneut wegen der Unterstütz­ung der syrischen Kurden. In den vergangene­n Tagen waren US-Militärfah­rzeuge nahe der türkischen Grenze in Nordsyrien aufgetauch­t, wo sie demonstrat­iv kurdische Milizionär­e schützten; die Türkei hatte bei Luftangrif­fen vergangene Woche in der Gegend rund 70 Kurdenkämp­fer getötet. Präsident Erdogan drohte jetzt mit neuen Angriffen. Auch Russland verstärkte laut Medienberi­chten seine Militärprä­senz entlang der türkischen Grenze in Syrien.

 ?? Foto: Yasin Akgul, afp ?? Er kam nicht weit, der Protestmar­sch zum 1. Mai in Istanbul: Ein großes Polizeiauf­gebot erstickte alle Versuche, einen geordneten Demonstrat­ionszug aufzustell­en, bereits im Keim.
Foto: Yasin Akgul, afp Er kam nicht weit, der Protestmar­sch zum 1. Mai in Istanbul: Ein großes Polizeiauf­gebot erstickte alle Versuche, einen geordneten Demonstrat­ionszug aufzustell­en, bereits im Keim.

Newspapers in German

Newspapers from Germany