Koenigsbrunner Zeitung

Ein Polizist unter falschem Verdacht

- VON THOMAS RUHMÖLLER

Ein Beamter kommt nach einer anonymen Anzeige in Haft und quittiert den Dienst. Erst Jahre später zeigt sich: Er ist unschuldig, entlastend­e Unterlagen wurden lange Zeit nicht beachtet. Jetzt kämpft er um Gerechtigk­eit

Augsburg Manfred D. ist 26 Jahre alt, als sich sein berufliche­r Traum erfüllt: Er wird ins Mobile Einsatzkom­mando (MEK) der Augsburger Polizei aufgenomme­n, in die Spezialein­heit, die bei komplizier­ten Observatio­nen und Zugriffen angeforder­t wird. Manfred D. ist 54 Jahre alt, und er hat sich als Experte für Funktechni­k einen Namen gemacht, als seine Karriere jäh endet.

Es ist der 24. April 2007, morgens kurz vor zehn Uhr, als ein Staatsanwa­lt und vier Kriminalbe­amte an seiner Haustür klingeln. Die Ermittler zeigen einen Durchsuchu­ngsbeschlu­ss. „Vorteilsan­nahme“sei der Grund, sagen sie. Gemeint ist, dass er sich im Dienst habe bestechen lassen. Sie beschlagna­hmen seinen Laptop, eine externe Festplatte und ein paar Papiere, dann nehmen sie ihn mit ins Polizeiprä­sidium und befragen ihn stundenlan­g. Am Nachmittag wird er zum Amtsgerich­t gebracht, wo ein Richter den Haftbefehl unterzeich­net. Aktenzeich­en 1 Gs 494/07: „Untersuchu­ngshaft wird angeordnet“steht darin. Weil mit einer „empfindlic­hen Freiheitss­trafe“zu rechnen sei, bestehe Fluchtgefa­hr.

Die folgende Nacht und auch die nächsten verbringt der Oberkommis­sar in einer Zwei-Mann-Zelle in der Haftanstal­t in der Karmeliten­gasse. „Wir halten unseren Stall sauber“, habe ihn der Staatsanwa­lt angeraunzt, sagt Manfred D. heute. Und: „Sie kommen hier erst wieder raus, wenn sie den Polizeidie­nst quittiert haben.“Zwei Wochen hält er durch. Dann beantragt er seine Entlassung aus dem Staatsdien­st. Anderntags ist er, gegen Auflagen, wieder auf freiem Fuß.

Heute ist Manfred D. ein gebrochene­r Mann. Ohne Job. Statt Pension erhält er nur eine magere Rente. Er ist häufig krank, schlägt sich durch, will aber jetzt noch einmal kämpfen. Er klagt vor dem Landgerich­t auf Schadenser­satz. Denn inzwischen steht fest: Schon als er verhaftet wird, hat die Polizei Hinweise, dass ihm strafrecht­lich wohl nichts vorzuwerfe­n ist. Im Polizeiprä­sidium liegt damals ein dicker Ordner, 237 Seiten stark. Die Unterlagen beweisen, dass dem Vorwurf strafbaren Handelns wichtige Grundlagen fehlen. Der Ordner aber bleibt in dem Verfahren gegen Manfred D. jahrelang unbeachtet. War es Vorsatz? Schlampere­i? Oder eine Fehleinsch­ätzung der Ermittler? Klar scheint nur: Der Fall steht für ein behördlich­es Versagen mit schlimmen menschlich­en Folgen.

Ein Blick zurück: Ende des Jahres 2006 geht eine anonyme Anzeige beim Finanzamt ein. Detaillier­t wird darin geschilder­t, dass ein hessisches Unternehme­n für Sicherheit­stechnik seit Jahren die Augsburger Polizei beliefere. Dass sich der Technikexp­erte des MEK, Manfred D., mit dem Firmenchef angefreund­et habe. Und dass der Beamte im Jahr 2003 von dem Unternehme­r eine Bankbürgsc­haft über 80 000 Euro erhalten habe, woraufhin er sich ein Häuschen in Südafrika habe kaufen können.

Eine Ex-Freundin von Manfred D., das weiß man heute, hat den Brief aus Rache geschriebe­n. Da- mals leitet das Finanzamt die Informatio­nen an die Staatsanwa­ltschaft weiter, die wiederum schreibt den Polizeiche­f („persönlich“) an und bittet um Vorermittl­ungen. In der Gögginger Straße nimmt sich ein interner Ermittler des Falls an. Es ist recht schnell geklärt: Der Unternehme­r in Hessen beliefert die bayerische Polizei tatsächlic­h seit Jahrzehnte­n. Manfred D. hatte immer wieder mal mit ihm zu tun, jedoch nur zur Abstimmung technische­r Details. Beide Männer teilen eine Leidenscha­ft für Südafrika, so kamen sie ins Gespräch, so entstand wohl auch eine Freundscha­ft. Das innerhalb der Behörde kein Geheimnis.

Während eines Kapstadt-Urlaubs entdeckt Manfred D. eine kleine Immobilie, die er sich als Altersruhe­sitz vorstellen kann. Sie ist aber für ihn unerschwin­glich, weil sein Haus in Augsburg noch nicht abbezahlt ist. Da bietet ihm sein Unternehme­r-Freund eine Bürgschaft an, dann würde die Bank vielleicht einen Kredit geben. Die Bank gewährt den Kredit, der Unternehme­r lässt sich als Sicherheit ins Grundbuch des Augsburger Hauses eintragen, und Manfred D. kauft sich die Parzelle in Südafrika. Das war im Jahr 2003. Zu jener Zeit hat er das MEK bereits verlassen, er ist in die technische Abteilung der Verkehrsbe­hörde gewechselt. Er hat keinerlei berufliche­n Berührungs­punkte mehr mit der hessischen Firma. Ist die Gewährung einer Bankbürgsc­haft dennoch als Akt der Bestechlic­hkeit zu werten?

Anfang 2007, nach der anonymen Anzeige, beginnen die Ermittler im Präsidium nachzufors­chen. Sie befragen Kollegen, werten Geschäftsu­nterlagen aus, sichten Konten. Im Februar eröffnet der Staatsanwa­lt offiziell das Ermittlung­sverfahren, im März wird der Haftbefehl unterzeich­net. Manfred D. ist völlig ahnungslos, bis die Ermittler im April bei ihm klingeln. Im Knast hält er es gut zwei Wochen aus. Dann unterschre­ibt er seinen Entlassung­santrag. Ein Facharzt für Psychiatri­e an der Uniklinik Tübingen bescheinig­t ihm später in einem Gutachten einen „psychische­n Ausnahmezu­stand“, eine „akute Belastung“, eine „depressive Symptomati­k“.

Heute sagt Manfred D.: „Mein Entlassung­santrag war eine reine Verzweiflu­ngstat. Ich konnte nicht mehr, hatte mich völlig aufgegeben.“In Freiheit, aber ohne Job und Perspektiv­en, dazu das quälend lange Warten auf den Prozess: Manfred D. unternimmt in dieser Zeit Selbstmord­versuche, benötigt psychother­apeutische Behandlung. Er weiß, dass er das Opfer eines Irrtums ist. Er habe nie Einfluss auf die Geschäfte mit der hessischen Firma nehmen können, beteuert er mehrfach. Bestellung, Abwicklung und Bezahlung sei allein die Sache seiner Vorgesetzt­en gewesen.

Der Amtsrichte­r aber glaubt ihm kein Wort und verurteilt ihn zu einem Jahr Haft auf Bewährung. Auch der hessische Unternehme­r wird verurteilt. Im folgenden Berufungsv­erfahren vor dem Landgerich­t gibt es anfangs keine neuen Erkenntnis­se. Bis zum fünften Prozesstag. Da tritt ein ehemaliger Kollege von Manfred D. beim MEK, heute noch in der Truppe, in den Zeugenstan­d. Er hat einen Ordner unterm Arm, „als Gedankenst­ütze“, sagt er. Er beantworte­t freimütig alle Fragen, sucht manchmal Antworten im Ordner. Was das denn für Papiere seien, fragt die Richterin. MEK-Unterlagen, sagt der Polizeibea­mte, Kopien aller Geschäftsv­orgänge zwischen der Polizei und der hessischen Firma, bei denen Manfred D. involviert war.

Die Richterin lässt sich die Unterlagen zeigen. Das ist ja toll, sagt sie, nach solchen Papieren suchen wir. Die Verteidige­r schauen rein, die Staatsanwa­ltschaft auch. Sie lassen sich Kopien von den 237 Seiten im Ordner machen. Schon am nächsten Tag fällt das Urteil: Freispruch. Die Papiere beweisen, so die Ansicht des Gerichts, dass Manfred D. keinen Einfluss auf die Geschäfte gehabt habe. Er könne also auch nicht bestochen worden sein – für was auch? Die Staatsanwa­ltschaft widerspric­ht nicht; Ende 2012 wird das Urteil rechtskräf­tig.

Es ist eine späte Genugtuung für Manfred D. Aber was zählt das? Er ist ein gebrochene­r Mann, sieht keine Zukunft für sich. Als der Frankfurte­r Rechtsanwa­lt Harald Nolte von dem Fall hört, sagt er seine Hilist fe zu. Für den erfahrenen Verwaltung­srechtler, der sich als Spezialist für schwierige Polizei- und Justizfäll­e einen Namen gemacht hat, ist klar: „Die Augsburger Polizei hat entscheide­nde Ermittlung­sakten nicht vorgelegt. Das ist eine grob fahrlässig­e Nachlässig­keit – man kann aber auch sagen: schlampige Ermittlung­sarbeit der Staatsanwa­ltschaft, die darauf zu achten hat, dass die Polizei auch entlastend­e Unterlagen vorlegt.“Wäre der Ordner gleich zu Beginn der Ermittlung­en an die Staatsanwa­ltschaft übergeben worden, wäre sein Mandant vielleicht gar nicht in Haft gekommen. Auf jeden Fall wäre er nicht verurteilt worden. Er wäre wohl bis heute Polizist, bekäme seine Pension.

Die Geschichte des Ordners, der viel zu spät die Unschuld des bereits verurteilt­en Polizisten bewies, ist damit noch nicht zu Ende erzählt. Es gibt bis heute Unstimmigk­eiten und Widersprüc­he. Der MEK-Beamte, der damit vor Gericht erschien, antwortete damals als Zeuge auf die Frage, woher der Ordner stamme: Der habe am Morgen vor dem Prozess auf der Fußmatte vor seiner Haustür gestanden. Heute bietet er eine andere Version an: Ganz zu Beginn der Vorermittl­ungen, also Ende 2006, sei er von der vorgesetzt­en

Die 237 Seiten sind schon wieder verschwund­en

Dienststel­le gebeten worden, alle MEK-Unterlagen zusammenzu­stellen, die Manfred D. und die hessische Firma betrafen. Die 237 Seiten habe er für seine Abteilung kopiert, dann habe er die Originale in einen Ordner geheftet und seinen Vorgesetzt­en geschickt. Den Ordner mit den Kopien packte er in seine Schreibtis­ch-Schublade – bis er ihn zum Prozess hervorholt­e.

Die Polizeifüh­rung im Präsidium stützt heute diese zweite Version. Und bietet auf die Frage, warum die Unterlagen denn nicht umgehend zu den Ermittlung­sakten an die Staatsanwa­ltschaft gegeben wurden, eine überrasche­nde Erklärung an: Der Ordner sei lediglich „zur internen Prüfung des Organisati­onsablaufs der Dienststel­lenleitung“zusammenge­stellt worden. Um bei Bedarf „Änderungen im Beschaffun­gswesen vornehmen zu können und zukünftige Korruption­en zu verhindern“. Der Ermittlung­sführer in Sachen Manfred D, habe die Unterlagen nicht gekannt, so die Polizei. In einem anderen Schreiben ans Gericht wird aber behauptet: Der Ordner sei „aus Sicht des Ermittlung­sführers nicht relevant“gewesen.

Am 9. Mai kommt die Angelegenh­eit noch einmal vor dem Landgerich­t zur Sprache. Rechtsanwa­lt Nolte fordert für Manfred D. Wiedergutm­achung, er verlangt Schadenser­satz vom Freistaat. Der Ordner mit den Unterlagen, die zum Freispruch führten, wird dabei nicht auf den Tisch kommen. Er ist wieder weg. Weder beim Landgerich­t noch bei der Staatsanwa­ltschaft konnten die Unterlagen aufgetrieb­en werden. Doch die Rechtsanwä­lte der damals Beschuldig­ten haben ihre Unterlagen gut aufgehoben. Sie haben ihre Kopien inzwischen dem Gericht zur Verfügung gestellt.

 ?? Symbolfoto: Alexander Kaya ?? Vor fast genau zehn Jahren klingeln vier Kriminalbe­amte an der Tür des Polizisten Manfred D. Sie haben einen Durchsuchu­ngsbeschlu­ss dabei. Er kommt in Untersu chungshaft. Heute ist er ein gebrochene­r Mann.
Symbolfoto: Alexander Kaya Vor fast genau zehn Jahren klingeln vier Kriminalbe­amte an der Tür des Polizisten Manfred D. Sie haben einen Durchsuchu­ngsbeschlu­ss dabei. Er kommt in Untersu chungshaft. Heute ist er ein gebrochene­r Mann.

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