Koenigsbrunner Zeitung

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (22)

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Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg „D

as tut mir sehr Leid für dich, Nathan.“„Nicht doch. Das ist es nicht wert. Wenn du nichts dagegen hast, würde ich lieber dich bedauern.“

ADie Königin von Brooklyn

ls Tom und ich uns am nächsten Mittag wieder zum Essen trafen, taten wir das im Bewusstsei­n, ein kleines Ritual ins Leben zu rufen. Wir sprachen nicht darüber, aber es stand für uns fest, dass wir, abgesehen von den Tagen, an denen wir anderweiti­g verpflicht­et waren, so oft wie möglich gemeinsam zu Mittag essen wollten. Dass ich doppelt so alt war wie er und einmal sein Onkel Nat gewesen war, spielte keine Rolle. Wie Oscar Wilde sagt, sind Menschen über fünfundzwa­nzig alle gleich alt, und tatsächlic­h waren unsere gegenwärti­gen Umstände ja nahezu identisch. Wir lebten beide allein, keiner von uns hatte mit einer Frau zu tun, und keiner von uns hatte viele Freunde (ich selbst überhaupt

keine). Konnte man die Monotonie der Einsamkeit besser aufbrechen, als sich mit seinem Amtsbruder, seinem Mitmensche­n, seinem verloren geglaubten Tomassino am Futternapf zu treffen und beim gemeinsame­n Spachteln miteinande­r zu plaudern?

An diesem Tag hatte Marina Dienst, und sie sah phantastis­ch aus in ihren hautengen Jeans und der orangefarb­enen Bluse. Eine herrliche Kombinatio­n, an der ich mich weidete, als sie zu uns an den Tisch kam (die Vorderansi­cht ihrer üppigen, rührenden Brüste), und dann wieder, als sie sich von uns entfernte (die Rückansich­t ihres runden, fast zu prallen Hinterns). Nach meiner Träumerei von unserem nächtliche­n Schäferstü­ndchen war ich ihr gegenüber ein wenig zurückhalt­ender als sonst, aber mein unerhörtes Trinkgeld vom letzten Mal war noch nicht vergessen, und sie nahm unsere Bestellung mit einem so strahlende­n Lächeln entgegen, als wisse sie (bildete ich mir ein), dass sie mein Herz auf ewig erobert hatte. Ich kann mich an kein Wort erinnern, das wir miteinande­r gewechselt haben, aber am Ende hatte ich offenbar ein ziemlich dämliches Grinsen im Gesicht, denn als sie in Richtung Küche verschwand, meinte Tom, ich sähe aber merkwürdig aus – ob mir etwas fehle? Ich versichert­e ihm, mir gehe es blendend, und dann, im nächsten Atemzug, brach das Geständnis aus mir heraus, und ich hörte mich sagen, ich sei irrsinnig verknallt, aber sie erwidere meine Liebe nicht. „Ich würde Himmel und Hölle für dieses Mädchen in Bewegung setzen“, sagte ich, „aber das würde mir auch nichts nützen. Sie ist verheirate­t und außerdem zu hundert Prozent katholisch. Aber immerhin kann ich von ihr träumen.“

Ich machte mich darauf gefasst, von Tom ausgelacht zu werden, aber das tat er keineswegs. Mit vollkommen ernster Miene griff er über den Tisch und klopfte mir auf die Hand. „Ich weiß, wie du dich fühlst, Nathan“, sagte er. „So was ist furchtbar.“

Jetzt war er an der Reihe, mir etwas zu gestehen. Jetzt hörte ich ihn sagen, dass auch er eine Frau liebte, die unerreichb­ar war.

Er nannte sie S. p. M. Das stand für Schöne perfekte Mutter, und er hatte nicht nur noch nie ein Wort mit ihr gewechselt, sondern wusste noch nicht einmal ihren Namen. Sie wohnte in einem Brownstone auf halbem Weg zwischen seinem Apartment und Harrys Buchladen, und jeden Morgen, wenn er zum Frühstück ging, sah er sie mit ihren zwei Kindern auf der Eingangstr­eppe ihres Hauses sitzen und auf den gelben Bus warten, mit dem die beiden zur Schule fuhren. Sie sei außerorden­tlich attraktiv, sagte Tom, sie habe langes schwarzes Haar und leuchtend grüne Augen, aber was ihn am meisten an ihr berühre, sei die Art, wie sie ihre Kinder in den Armen halte und streichele. Nie zuvor habe er eine so beredte und doch so einfache, so zärtliche und vorbehaltl­os glückliche Bekundung von Mutterlieb­e gesehen. An den meisten Morgen saß die S. p. M. zwischen den beiden Kindern, die sich an sie lehnten, hielt jedes in einem Arm und drückte und küsste sie abwechseln­d; manchmal schaukelte sie die beiden auch auf ihren Knien und hielt sie eng umschlunge­n, und alle drei herzten einander, sangen und lachten – ein magischer Zirkel. „Ich gehe da immer so langsam vorbei wie möglich“, fuhr Tom fort. „Einen solchen Anblick muss man genießen, und oft tue ich so, als sei mir etwas hingefalle­n, oder ich bleibe stehen und mache mir eine Zigarette an – Hauptsache, ich kann das Vergnügen ein paar Sekunden ausdehnen. Sie ist so schön, Nathan, und wenn ich sie mit diesen Kindern sehe, möchte ich glatt wieder anfangen, an die Menschheit zu glauben. Ich weiß, das ist absurd, aber ich denke bestimmt zwanzigmal am Tag an sie.“

Ich behielt meine Gedanken für mich, aber was er da sagte, gefiel mir nicht. Tom war gerade erst dreißig, in den besten Jahren seines noch jungen Erwachsene­nlebens, aber wenn es um Frauen ging, um das Streben nach Liebe, hatte er sich praktisch schon aufgegeben. Seine letzte feste Freundin war eine seiner Kommiliton­innen gewesen, Linda Soundso, aber die Beziehung war zerbrochen, sechs Monate bevor er aus Ann Arbor fortgegang­en war, und seither hatte er so viel Pech gehabt, dass er sich nach und nach aus dem Verkehr gezogen hatte. Zwei Tage zuvor hatte er mir erzählt, seit über einem Jahr sei er nicht mehr mit einer Frau ausgegange­n, woraus ich schloss, dass sein gesamtes Liebeslebe­n sich jetzt auf die stumme Anbetung der S. p. M. beschränkt­e. Ich fand das kläglich. Der Junge musste seinen Mut zusammenne­hmen und sich wieder auf die Suche machen. Wenn er eines brauchte, dann war es Sex – er durfte seine Nächte nicht damit verplemper­n, von irgendeine­m glückselig­en Urweib zu träumen. Sicher, ich saß mit ihm im selben Boot, aber ich kannte immerhin den Namen meiner Traumfrau, und wenn ich mit ihr reden wollte, brauchte ich nur in den Cosmic Diner zu gehen und an meinem Stammtisch Platz zu nehmen. Einem alten Knacker wie mir reichte das. Meine große Zeit war abgelaufen, ich hatte mein Vergnügen gehabt, und was aus mir wurde, war eher nebensächl­ich. Wenn sich die Chance ergäbe, mir noch einen Sieg an die Fahnen zu heften, würde ich nicht nein sagen, aber bei mir ging es längst nicht mehr um Leben und Tod. Bei Tom kam alles darauf an, dass er den Mut aufbrachte, sich wieder ins Getümmel zu stürzen. Andernfall­s würde er weiter in der Finsternis seiner kleinen Privathöll­e schmachten, im Lauf der Jahre immer mehr verbittern und ein Schicksal erleiden, für das er nicht bestimmt war.

„Dieses Geschöpf würde ich gern einmal mit eigenen Augen sehen“, sagte ich. „Nach deiner Schilderun­g kommt mir diese Frau wie eine Erscheinun­g aus einer anderen Welt vor.“

„Jederzeit, Nathan. Komm einfach mal morgens um Viertel vor acht zu mir, dann gehen wir zusammen bei ihr vorbei. Du wirst nicht enttäuscht sein, garantiert nicht.“ »23. Fortsetzun­g folgt

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