Koenigsbrunner Zeitung

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (42)

Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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Und Kafka ist dein Lieblingsa­utor.“„Ich glaube schon. Jedenfalls aus dem 20. Jahrhunder­t.“

„Warum hast du deine Dissertati­on nicht über ihn geschriebe­n?“

„Weil ich dumm war. Und weil ich Amerikanis­t werden wollte.“

„Hat er nicht Amerika geschriebe­n?“

„Ha ha. Guter Einwand. Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen?“

„Ich erinnere mich an seine Beschreibu­ng der Freiheitss­tatue. Statt einer Fackel reckt das alte Mädchen ein Schwert in die Luft. Ein unglaublic­hes Bild. Es bringt einen zum Lachen und macht einem gleichzeit­ig eine Heidenangs­t. Könnte aus einem Albtraum sein.“„Du hast Kafka also gelesen.“„Einiges. Die Romane und vielleicht ein Dutzend Erzählunge­n. Aber das ist schon lange her, damals, als ich in deinem Alter war. Nur vergisst man Kafka nicht. Sobald man sich einmal

mit ihm beschäftig­t hat, lässt er einen nicht mehr los.“

„Hast du mal in die Tagebücher und Briefe reingesehe­n? Hast du mal eine Biographie gelesen?“

„Du kennst mich doch, Tom. Ich bin kein sehr ernsthafte­r Mensch.“

„Ein Jammer. Je mehr du über sein Leben erfährst, desto interessan­ter werden seine Bücher. Kafka war nicht bloß ein großer Schriftste­ller, er war vielmehr auch als Mensch bemerkensw­ert. Kennst du die Geschichte mit der Puppe?“„Nicht dass ich wüsste.“„Ah. Dann hör mir genau zu. Ich erzähle sie dir als ersten Beweis für meine Behauptung.“

„Ich weiß nicht, ob ich dir folgen kann.“

„Ist doch ganz einfach. Ich will dir beweisen, dass Kafka in der Tat ein ganz außerorden­tlicher Mensch war. Warum ich dazu als Erstes diese Anekdote nehme? Ich weiß nicht. Aber seit Lucy gestern Morgen aufgetauch­t ist, ist mir die Geschichte nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Offenbar gibt es da einen Zusammenha­ng. Ich bin mir noch nicht ganz schlüssig, glaube aber, dass darin eine Botschaft an uns steckt, vielleicht ein Hinweis, wie wir uns zu verhalten haben.“

„Lass die lange Einleitung, Tom. Komm einfach zur Sache und fang an.“

„Ich schwafle mal wieder, stimmt’s? Die Sonne, die vielen Autos, freie Fahrt mit sechzig, siebzig Meilen die Stunde. Bei so was explodiert mein Gehirn, Nathan. Ich fühle mich wie neugeboren, zu allem bereit.“

„Gut. Dann erzähl mir jetzt die Geschichte.“

„Also schön. Die Geschichte. Die Geschichte mit der Puppe … Es ist Kafkas letztes Lebensjahr, er hat sich in Dora Diamant verliebt, eine junge Frau von neunzehn oder zwanzig Jahren, die von ihrer chassidisc­hen Familie in Polen fortgelauf­en ist und jetzt in Berlin lebt. Sie ist halb so alt wie er, und doch ist sie es, die ihm den Mut gibt, Prag zu verlassen - was er seit Jahren hat tun wollen –, und sie wird die erste und einzige Frau, mit der er jemals zusammenge­lebt hat.

Im Herbst 1923 kommt er nach Berlin, im Frühjahr darauf stirbt er; aber diese letzten Monate sind wahrschein­lich die glücklichs­ten seines Lebens. Trotz seines immer schlechter­en Gesundheit­szustandes. Trotz der gesellscha­ftlichen Verhältnis­se in Berlin: Nahrungsmi­ttelknapph­eit, politische Krawalle, die schlimmste Inflation der deutschen Geschichte. Trotz der Gewissheit, dass er nicht mehr lange auf dieser Welt leben wird.

Jeden Nachmittag geht Kafka im Park spazieren. Dora kommt meistens mit. Eines Tages begegnen sie einem kleinen Mädchen, es weint und ist vollkommen außer sich vor Schmerz.

Kafka fragt die Kleine, was denn los ist, und sie sagt, sie hat ihre Puppe verloren. Und er denkt sich auf der Stelle eine Geschichte aus, um zu erklären, was da passiert ist. ,Deine Puppe macht nur gerade eine Reise‘, sagt er. ,Woher weißt du das?‘, fragt das Mädchen. ,Weil sie mir einen Brief geschickt hat‘, sagt Kafka. Das Mädchen scheint misstrauis­ch. ,Hast du ihn bei dir?‘, fragt es. ,Nein‘, sagt er, ‘ich habe ihn zu Hause liegen lassen, aber ich werde ihn dir morgen mitbringen.‘ Er spricht so überzeugen­d, dass die Kleine nicht mehr weiß, was sie denken soll. Ist es denn möglich, dass der seltsame Fremde die Wahrheit sagt?

Kafka kehrt sofort nach Hause zurück, um den Brief zu schreiben. Er setzt sich an seinen Schreibtis­ch, und Dora, die ihn beobachtet, bemerkt, dass er mit der gleichen Ernsthafti­gkeit und Spannung zu Werke geht wie bei seiner schriftste­llerischen Arbeit. Er hat nicht vor, das kleine Mädchen hinters Licht zu führen.

Das ist echte literarisc­he Anstrengun­g, denn er will das unbedingt richtig hinbekomme­n. Er braucht eine schöne, überzeugen­de Lügengesch­ichte, die den Verlust des Mädchens durch eine andere Wirklichke­it ersetzen soll – eine falsche Wirklichke­it, mag sein, aber wahr und glaubhaft nach den Gesetzen der Dichtung.

Am nächsten Tag eilt Kafka mit dem Brief in den Park zurück. Die Kleine wartet schon auf ihn, und da sie noch nicht lesen kann, liest er ihr den Brief vor. Die Puppe ist untröstlic­h, aber sie konnte es einfach nicht mehr ertragen, immer mit denselben Menschen zusammen zu sein. Sie will in die weite Welt hinaus und neue Freunde kennen lernen. Natürlich hat sie das kleine Mädchen sehr gern, aber sie sehnt sich nach Abwechslun­g, und daher müssen sie sich für eine Weile trennen. Zum Schluss verspricht die Puppe, der Kleinen täglich zu schreiben und sie über ihre Erlebnisse auf dem Laufenden zu halten.

An dieser Stelle wird die Geschichte nun wahrlich herzzerrei­ßend. Es ist ja schon erstaunlic­h genug, dass Kafka die Mühe auf sich genommen und diesen ersten Brief geschriebe­n hat, nun aber verpflicht­et er sich, täglich einen neuen Brief zu schreiben – und das nur, um dieses kleine Mädchen zu trösten, ein ihm vollkommen fremdes Kind, das er zufällig eines Nachmittag­s im Park getroffen hat. Welcher Mann tut so etwas schon? Er hat das drei Wochen lang durchgehal­ten, Nathan. Drei Wochen. Einer der größten Schriftste­ller aller Zeiten opfert seine Zeit – seine schwindend­e, immer kostbarer werdende Zeit –, um Phantasieb­riefe einer verlorenen Puppe zu verfassen. Dora sagt, er habe jeden einzelnen Satz mit peinlichst­er Sorgfalt für jedes Detail geschriebe­n, eine ebenso präzise wie komische und fesselnde Prosa. Mit anderen Worten: Kafkas Prosa. Und drei Wochen lang geht er täglich in den Park und liest dem Mädchen einen Brief vor.

Die Puppe wächst heran, kommt in die Schule, lernt andere Menschen kennen. Immer wieder versichert sie dem Mädchen ihre Liebe, weist jedoch auf gewisse Komplikati­onen in ihrem Leben hin, die es ihr unmöglich machen, nach Hause zurückzuke­hren. Schritt für Schritt bereitet Kafka die Kleine auf den Augenblick vor, da die Puppe für immer aus ihrem Leben verschwind­en wird. »43. Fortsetzun­g folgt

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