Koenigsbrunner Zeitung

Die Reise eines kleinen Einhorns

- VON ANJA RINGEL (TEXT UND FOTOS)

Täglich bestellen Tausende Menschen die unterschie­dlichsten Produkte bei Amazon. Die Artikel werden gemessen, gewogen und chaotisch gelagert. Der abenteuerl­iche Weg von der Anlieferun­g in Graben bis zur Haustür

Graben Ein schrilles Klingeln ertönt. Vor der weißen Haustür mit Glaseinsat­z steht ein Postbote. In der Hand hält er ein schuhkarto­ngroßes Paket. Im Karton sind jedoch keine neuen Sneaker von Zalando, sondern ein türkisfarb­enes Plüsch-Einhorn mit lila Mähne, kleinen rosa Flügeln auf dem Rücken und einem goldenen Horn. Bevor das Kuscheltie­r jedoch bei seinem neuen Besitzer ankommt, muss es eine lange Reise durchlaufe­n – und das in weniger als 24 Stunden.

Das Amazon-Logistikze­ntrum in Graben, einen Tag zuvor: Ein weißer Lastwagen tastet sich in Schrittges­chwindigke­it rückwärts an die Lagerhalle heran. Im Fahrzeug sind braune und weiße Kartons, gleich große sind jeweils auf einer Palette gestapelt. Sie werden mit durchsicht­iger Folie zusammenge­halten. Eine Frau mit orangefarb­ener Weste holt die Paletten mit einem Hubwagen ab und reiht sie in einer Halle auf. Ein paar Meter weiter stehen drei Männer an einem Fließband und öffnen die Kartons mit Paketmesse­rn. In einer der Kisten ist das Einhorn. „Hier sortieren wir Artikel mit Gefahrstof­fen aus und solche, die noch verpackt werden müssen“, erklärt Markus Neumayer, Senior Operations Manager bei Amazon Graben.

Währenddes­sen schlendern zwei Mitarbeite­r an dem Kuscheltie­r vorbei. In der gesamten Halle ist die Luft angenehm kühl, während das Thermomete­r draußen 30 Grad anzeigt. Bis auf das Summen der Fahrzeuge und das Öffnen der Kartons sind keine Geräusche zu hören. Dann nimmt sich der nächste Mitarbeite­r dem Plüsch-Einhorn an und bringt es zur Vereinnahm­ung: Der Artikel wird also im Inventar aufgenomme­n.

Ein Mitarbeite­r scannt dort die Barcodes der Produkte ab und prüft, ob sie beschädigt sind. Das Einhorn ist heil und der Mitarbeite­r legt es in eine gelbe Kiste. Es kann seine Reise durch die Amazon-Hallen fortsetzen. Als das Einhorn zum ersten Mal nach Graben kam, musste es noch eine Zwischenst­ation einlegen: Ein Mitarbeite­r hat das Einhorn vermessen und gewogen. Dafür steht auf einem Tisch ein fünfeckige­s Vermessung­sgerät. Das Kuscheltie­r ist mit 30 Zentimeter­n Höhe genauso lang wie ein Lineal und mit 159 Gramm ein Leichtgewi­cht. „Die Maße und das Gewicht sind wichtig, damit wir wissen, in welchem Regal das Produkt gelagert werden kann und in welchem Karton es später verschickt wird“, sagt Neumayer.

Verwinkelt geht es nach der Vereinnahm­ung und Vermessung des Einhorns weiter durch das Gebäude. Damit sich niemand verlaufen kann, sind alle Abteilunge­n mit Schildern gekennzeic­hnet. Zusätzlich gibt es Hinweissch­ilder an den Regalen.

Francis Gkorekwo ist der nächste, der sich um das Kuscheltie­r kümmert. Er sortiert alle Produkte aus der gelben Kiste in Regale ein. In Graben gibt es das Prinzip der chaotische­n Lagerung: Das bedeutet, dass Gkorekwo die Artikel dort einsortier­t, wo Platz ist. Das Einhorn teilt sich sein Fach mit einem „Gesundheit­scheck Darm-Stuhltest“, einem solarbetri­ebenen Bewegungsm­elder, einer Wiegenbett­wäsche für Babys und einem Kleiderhak­en. Gkorekwo nimmt das Plüschtier in die Hand, betrachtet es eingehend und zieht die Augenbraue­n nach oben. „Ich sortiere andauernd Einhörner ein“, erklärt er im Spaß auf Englisch. Weil Einhörner momentan gefragt sind, ist das Kuscheltie­r in einem Regal mit einem Hasensymbo­l an der Seite. Auf Englisch steht daneben „Fast“– schnell. „Das sind Produkte, die sich erfahrungs­gemäß rasch verkaufen“, erklärt Neumayer. Diese Artikel werden in die vorderen Regale einsortier­t, damit die Mitarbeite­r nicht so weit laufen müssen. Artikel, die nicht so beliebt sind, werden in Regale mit einem Schildkröt­ensymbol gestellt. In einem dieser Regale wartet ein Rotkäppche­n-Kostüm auf seinen Einsatz beim Faschingsu­mzug oder bei einer Theaterauf­führung.

Irgendwo in der Region entdeckt währenddes­sen eine Familie das Kuscheltie­r für 22,93 Euro am heimischen Laptop. Sobald sie auf „Bestellen“klicken, beginnt im Logistikze­ntrum in Graben der nächste Bearbeitun­gsprozess: Ein „Picker“erhält auf seinem Handscanne­r eine Liste an Produkten, die er aus den Regalen „picken“– also einsammeln – muss. Das Einhorn wird ihm ganz vorne angezeigt. Der Grund: Die Familie hat den Artikel als PrimeBeste­llung geordert. Er muss also heute noch verschickt werden. Die Bestellabw­icklung darf deshalb maximal zwei Stunden und 15 Minuten dauern, erklärt Neumayer.

Trotz des Zeitdrucks rennt im Logistikze­ntrum niemand. Der Picker geht mit einem Wagen, auf dem eine gelbe Kiste steht, durch die Regalreihe­n, hält an, scannt die bestellten Produkte ein und legt sie in die Kiste. Anschließe­nd stellt er die Box auf ein Förderband. Sie be- kommt dadurch automatisc­h einen „Zielbahnho­f“, sagt Neumayer. Die Kiste mit dem Einhorn fährt zu D 02. Auf den Fließbände­rn fahren jedoch nicht nur gelbe Kisten, sondern auch schwarze. In diesen befinden sich Artikel, die zu anderen Amazon-Logistikze­ntren geschickt werden.

Ein paar Minuten später wird die gelbe Kiste mit dem Einhorn abgeholt und zur Sortierabt­eilung gebracht. Dort scannt eine Mitarbeite­rin jeden einzelnen Artikel ein und legt ihn in ein Regalfach. Jedes Fach entspricht einer Kundenbest­ellung. In einem steht bereits ein Parfum neben einem Buch, andere sind noch leer. Jetzt ist das Einhorn an der Reihe: Die Mitarbeite­rin scannt den Barcode flink ein. Am Bildschirm erscheint E6 und die Frau legt das Einhorn in das entspreche­nde Fach. Dann greift sie nach dem nächsten Artikel. Bestellt ein Kunde viele Produkte auf einmal, reicht ein Regalfach oft nicht aus. Auch hier hat das System von Amazon eine Lösung parat, erklärt Neumayer: „Der Computer erkennt das und sagt dem Mitarbeite­r, das zwei kleine Fächer zu einem großen zusammenge­führt werden sollen.“

Das Regal mit den Bestellung­en wird indessen zur nächsten Station gerollt – der Packstatio­n. Auf dem Weg dorthin kommt es an einer kleinen Menschenan­sammlung vorbei. „Das ist ein Startmeeti­ng“, sagt Neumayer. „Nach der Mittagspau­se gibt es immer eine Ansprache, in der zum Beispiel Sicherheit­shinweise gegeben werden. Die Mitarbeite­r werden aber auch auf Zugverspät­ungen hingewiese­n.“An der Packstatio­n angekommen, wartet schon Marta Niwergol- Kuhnert auf das Einhorn und die anderen Artikel. Vor ihr sind in zwei Regalreihe­n Kartonagen in den unterschie­dlichsten Größen platziert. Jede Verpackung ist mit einer Buchstaben­und Zahlenkomb­ination ge- kennzeichn­et. Niwergol-Kuhnert scannt die Einhorn-Bestellung am Computer links von ihr ein. „E1“, teilt ihr das System mit. Sofort greift sie nach der richtigen Kartonage, baut sie zusammen, legt das Einhorn hinein und schließt das Paket in Sekundensc­hnelle mit einem „Amazon Prime“-Klebeband. Auf die Box kommt außerdem noch ein weißer Aufkleber mit einem Strichcode. Sie legt den braunen Karton auf ein Förderband und greift nach der nächsten Bestellung. „Die Mitarbeite­r in der Packstatio­n wissen nicht, welcher Kunde was bestellt hat. Es kann also theoretisc­h vorkommen, dass man sein eigenes Weihnachts­geschenk einpackt“, sagt Neumayer.

Der Karton mit dem Einhorn setzt seine Reise auf dem Förderband fort. An einer Stelle wird die Box automatisc­h gewogen, um zu überprüfen, ob das Gewicht zum Porto passt. Es stimmt alles und das Kuscheltie­r fährt weiter. Eine Maschine klebt von oben das Versandeti­kett mit der Zieladress­e auf den Karton. An vielen Stellen des Förderband­es gibt es Rutschen. Einige Boxen werden automatisc­h darauf geschoben. Jede Rutsche steht für

Regale mit einem Hasen oder Schildkröt­ensymbol DHL unterschei­det Region vom Rest Deutschlan­ds

einen anderen Zielort und eine andere Zeit. An einer steht „Hermes Nürnberg 22:45“.

Das Einhorn lässt die Rutschen links liegen und fährt auf dem Förderband direkt zu DHL. Das Postuntern­ehmen hat sein Frachtzent­rum unmittelba­r neben Amazon gebaut. Bei DHL angekommen, werden die Pakete nach dem Bestimmung­sort sortiert: „Wir unterschei­den zwischen Region und dem Rest Deutschlan­ds“, erklärt Pressespre­cher Erwin Nier. Das Einhorn kommt nach Augsburg in ein Paketzentr­um. „Dort wird es dann in ein Fahrzeug verladen, das den betreffend­en Zustellstü­tzpunkt beliefert“, sagt Nier. Der zuständige Zusteller lädt die Sendung in sein Fahrzeug und klingelt an der Haustür. Dort heißt der Besitzer nicht D02 oder E 6, sondern Marie Müller. Und die freut sich über ihr neues Kuscheltie­r

– das türkisfarb­ene Einhorn.

 ??  ?? Dies ist eine der Hallen von Amazon in Graben. Für Bücher gibt es spezielle Regaltypen, weil sie so besser gelagert werden können.
Dies ist eine der Hallen von Amazon in Graben. Für Bücher gibt es spezielle Regaltypen, weil sie so besser gelagert werden können.
 ??  ?? Das Einhorn wartet in seinem Fach E 6 darauf, zur Packstatio­n gebracht zu werden.
Das Einhorn wartet in seinem Fach E 6 darauf, zur Packstatio­n gebracht zu werden.
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Nach einem Tag auf der Rei se kommt das Ein horn bei seinem neuen Besitzer an.
 ??  ?? Marta Niwergol Kuhnert verpackt das Einhorn.
Marta Niwergol Kuhnert verpackt das Einhorn.
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Ein Mitarbeite­r scannt den Barcode des Einhorns ein und nimmt es so im Inventar auf.
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Francis Gkorekwo sortiert die Produkte aus der gelben Kiste in die Regale ein. Das Einhorn ist der nächste Artikel, um den er sich kümmert.

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