Paul Auster: Die Brooklyn Revue (59)
Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzung von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Tom hatte nur eine sehr verschwommene Vorstellung davon, worum es bei dem Streit mit Dryer und Trumbell gegangen war (er wusste, es hatte irgendwie mit dem von Harry eingefädelten Geschäft zu tun, mehr aber auch nicht), und Rufus und Nancy tappten vollständig im Dunkeln. Im Gegensatz zu Tom hatten sie von Gordon Dryer noch nie gehört, und auch von den Flecken auf Harrys Weste war ihnen nichts bekannt. Ich machte mir nicht die Mühe, sie über die Einzelheiten ins Bild zu setzen. Was hätte das nützen sollen? Für mich war jetzt nur wichtig, so schnell wie möglich ans Telefon zu kommen - und dafür zu sorgen, dass morgen kein Umzugswagen vor dem Laden auftauchte. Dryer und sein Freund mochten Harry getötet haben, aber ich würde nicht zulassen, dass sie ihn auch noch ausraubten.
Ich bat Tom um den Schlüssel für das Büro, und da er sich in diesem Augenblick in einem Zustand äußerster
Verwirrtheit befand (Trauer um den unerwarteten Tod seines Chefs, Freude und Schrecken über die plötzliche Nähe zu Nancy, sein Bemühen, den schier untröstlichen Rufus zu trösten), langte er geistesabwesend in seine Tasche und gab ihn mir. Erst als ich zur Tür hinausging, kam er lange genug zur Besinnung, mich zu fragen, was ich vorhätte. „Nichts“, sagte ich vage. „Ich muss nur mal was nachsehen. Bin gleich wieder da.“
Ich setzte mich an Harrys Schreibtisch und zog die mittlere Schublade auf. Wenn er Dryers Telefonnummer irgendwo aufbewahrt, dann vermutlich hier, dachte ich. Notfalls hätte ich auch Trumbell über die Auskunft aufgespürt, aber durch den Blick in die Schublade hoffte ich ein wenig Zeit zu sparen. Ausnahmsweise hatte ich einmal Glück. Ganz oben in der Schublade lag ein Briefumschlag, an dem eine grüne Haftnotiz befestigt war; darauf standen mit Tinte geschrieben zwei Worte: Gordons Handy, ge- folgt von einer zehnstelligen Nummer, die mit der Vorwahl 917 anfing. Als ich den Zettel vom Umschlag abzog und neben das Telefon auf den Schreibtisch legte, sah ich, dass auch auf dem Umschlag etwas stand: Im Falle meines Todes zu öffnen.
Drinnen befanden sich zwölf mit Maschine geschriebene Seiten, ein von der Kanzlei Flynn, Bernstein & Vallaro in der Court Street aufgesetztes Testament, ordnungsgemäß unterschrieben, beglaubigt und ausgefertigt am 5. Juni 2000, also nur einen Tag bevor ich im Chowder Inn mit Harry telefoniert hatte. Ich überflog den Inhalt des Dokuments, und nach drei Minuten hatte ich begriffen, was er mit seinem Riesending, mit seinem Coup schlechthin, mit seinem eleganten Kopfsprung zur ewigen Größe gemeint hatte. Er hatte damit auf das Testament angespielt, das ich jetzt in Händen hielt und das in der Tat etwas Großartiges war, etwas vollkommen Überraschendes und Großartiges, der Beweis, dass ihm meine Warnungen sehr viel näher gegangen waren, als ich mir vorgestellt hatte. Mir gegenüber hatte er meinen Rat in den Wind geschlagen, für sich aber war er auf Nummer Sicher gegangen und hatte die Möglichkeit, dass Gordon ihn linken könnte, in Betracht gezogen: Er hatte geahnt, sollte es zu einem solchen Verrat kommen, wäre sein Leben vorbei - wenn auch nicht buchstäblich, so doch immerhin in dem Sinne, dass er eine so verheerende Enttäuschung nicht würde ertragen können. Das hatte er mir bei unserem Essen am ersten Juni ja selbst gesagt: Wenn du mit Gordon Recht hast, ist mein Leben sowieso am Ende.
Der Gedanke, Gordon heuchle ihm was vor, um sich an ihm zu rächen, brachte ihn auf den Gedanken an seinen Tod. Der erste Gedanke führte naturgemäß zum zweiten, und am Ende waren die beiden Gedanken eins. Daher das Testament. Der Schritt mochte allzu drastisch sein, eine fast schon hysterische Reaktion auf die Seelenqual, die ihn bedrängte, aber wer konnte ihm einen Vorwurf daraus machen, dass er (mit seinen Worten) einige Vorkehrungen treffen wollte? Im Lichte dessen, was sich an diesem Tag zugetragen hatte, erschien das nun als Akt ungemeiner Klugheit.
Die zwei in dem Testament als Begünstigte Genannten waren Tom Wood und Rufus Sprague. Sie sollten nicht nur das Gebäude an der Seventh Avenue erben, sondern auch das Antiquariat Brightman’s Attic, einschließlich des gesamten zu diesem Unternehmen gehörenden Warenund Geldbestandes. Daneben wurden andere, kleinere Vermächtnisse erwähnt – diverse Bücher, Gemälde und Schmuckstücke, die Leuten zugedacht waren, deren Namen mir nichts sagten –, aber die Hauptmasse von Harrys Besitz ging an Tom und Rufus, die die Einnahmen aus Brightman’s Attic zu gleichen Teilen unter sich aufteilen sollten. Auf dem Gebäude lastete keine Hypothek, und die Bücher und Manuskripte in dem Zimmer, in dem ich jetzt saß, waren von beträchtlichem Wert, sodass sich die Erbschaft insgesamt auf ein kleines Vermögen belief, mehr Geld, als die beiden sich je hätten erträumen können. Im allerletzten Moment hatte Harry sein Riesending abgezogen, seinen Coup schlechthin. Er hatte für seine Jungs gesorgt.
Jetzt wurde mir klar, wie sehr ich ihn unterschätzt hatte. Der Mann mochte sich zu einem Schelm und Halunken entwickelt haben, aber ein Teil von ihm war der zehnjährige Junge geblieben, der davon geträumt hatte, Waisenkinder aus den zerbombten Städten Europas zu retten. Trotz all seiner witzelnden Respektlosigkeit, trotz all seiner Sünden und Lügen hatte er den Glauben an die Grundsätze des Hotels Existenz nie aufgegeben. Der gute alte Harry Brightman. Der komische alte Harry Brightman. Hätte auf seinem Schreibtisch eine Flasche gestanden, ich hätte mir ein Glas eingeschenkt und zu seinem Gedenken ausgetrunken. Stattdessen griff ich zum Telefon und wählte Gordons Nummer. Das lief auf lange Sicht wahrscheinlich auf das Gleiche hinaus.
Er ging nicht ran, aber nach dem vierten Klingeln schaltete sich der Anrufbeantworter ein, und ich hörte zum ersten Mal seine Stimme - eine ungewöhnlich ruhige und wachsame Stimme, wie mir schien, emotionslos und ziemlich monoton. Zum Glück nannte er eine zweite Nummer, unter der er zu erreichen sei (die von Trumbell, nahm ich an), was mir die Mühe ersparte, selbst danach zu suchen. Ich wählte noch einmal, rechnete freilich damit, dass niemand abnehmen würde, denn ich vermutete, Dryer und Trumbell ließen jetzt sicher irgendwo in Brooklyn die Korken knallen und feierten ihren Triumph. Ich überlegte schon, ob ich eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen sollte, als das Klingeln plötzlich abbrach und ich zum zweiten Mal innerhalb von dreißig Sekunden Dryers Stimme vernahm. Ich wusste zwar ganz genau, dass er das am anderen Ende der Leitung war, fragte aber sicherheitshalber trotzdem, ob ich Gordon Dryer sprechen könne.
„Am Apparat“, sagte er. „Wer spricht da?“
„Nathan“, antwortete ich. »60. Fortsetzung folgt