Schreiben im Schatten der Erinnerung
Die Traumata seiner Kindheit prägten viele Bücher von Peter Härtling. Doch er fand auch hellere Töne. Jetzt ist er 83-jährig gestorben
Mörfelden Walldorf Die Erlebnisse seiner Kindheit haben ihn nicht losgelassen. „Was wir heute hören, Pegida und Ähnliches, ist wie ein bitterböses Echo aus jenen Tagen“, sagte der Schriftsteller Peter Härtling im vergangenen Jahr mit Blick auf seine Fluchterfahrung nach dem Zweiten Weltkrieg. Er frage sich, ob die Geschichte in Vergessenheit geraten sei. Familien-, Flucht- und Außenseitergeschichten sowie die Themen Heimat und Erinnerung haben sein Werk geprägt. Am Montag ist Härtling nach kurzer schwerer Erkrankung mit 83 Jahren in Rüsselsheim gestorben, wie sein Verlag Kiepenheuer & Witsch in Köln mitteilte. Seit Anfang der 70er Jahre hatte er in Mörfelden-Walldorf bei Frankfurt gelebt.
Härtlings Kindheit war gezeichnet von Nationalsozialismus und Krieg. Geboren 1933 in Chemnitz, zog er mit der Familie 1941 nach Olmütz im damals von Deutschland besetzten Sudetenland. Der Vater lehnte den Nationalsozialismus ab, der Sohn war begeisterter Hitlerjunge. Als die Familie 1945 nach Niederösterreich floh, geriet der Vater in russische Gefangenschaft und starb kurze Zeit später. Die Familie erfuhr erst ein Jahr später davon. Sie war inzwischen im württembergischen Nürtingen gestrandet. Die Mutter beging im Oktober 1946 Selbstmord; ihre Vergewaltigung durch russische Soldaten hatte der junge Härtling 1945 mit ansehen müssen.
Peter und seine Schwester wuchsen bei der Großmutter und zwei Tanten auf. Die Frauen fanden den traumatisierten Jungen „aufsässig“. Vor allem der Maler Fritz Ruoff, der als Kommunist von den Nationalsozialisten verfolgt worden war, wurde für ihn zum Mentor. Von seiner kindlichen Begeisterung für die Nazis verabschiedete sich Härtling gründlich. In der Schule eckte er mit linken Ansichten an und distanzierte sich vom Nazi-Gedankengut seiner Lehrer. Ein Jahr vor dem Abitur verließ er die Schule.
Härtling schlug zunächst die Journalisten-Laufbahn ein, wurde Volontär bei der Nürtinger Zeitung, Redakteur bei der Heidenheimer Zeitung, Feuilleton-Redakteur bei der Deutschen Zeitung und bei der Zeitschrift Der Monat, deren Mitherausgeber er wurde. In den 1960er Jahren beteiligte sich Härtling an Wahlkämpfen für die SPD und schrieb Reden; später wandte er sich von den Sozialdemokraten ab und unterstützte die Friedensbewegung. Zuletzt zeigte er sich von der Politik enttäuscht, weil sie keine Visionen mehr verfolge.
Das eigentliche Lebensthema für Härtling war die Literatur. Ab 1967 wurde er Cheflektor beim S. Fischer Verlag in Frankfurt, dann rückte er in die Geschäftsführung auf. 1974 erfüllte er sich den Traum, als freier Schriftsteller zu arbeiten. Doch bereits 1953 hatte Härtling einen ersten Gedichtband veröffentlicht, „poeme und songs“. Weitere Gedichtausgaben folgten und mit „Im Schein des Kometen“1959 auch der erste Roman. Härtling vernetzte sich in der literarischen Szene. 1965 las er bei der Tagung der „Gruppe 47“.
Härtling war ein vielseitiger und experimentierfreudiger Autor. Romane, Erzählungen und autobiografische Schriften zählen ebenso zu seinen Werken wie Kinderbücher. Den Anstoß dazu gaben seine vier Kinder, aber auch die Erinnerung an die eigene Kindheit. So thematisiert „Ben liebt Anna“die Freundschaft eines Jungen zu einem Spätaussiedler-Mädchen. Bis heute gehört das Kinderbuch aus dem Jahr 1979 zur Schullektüre. 2013 veröffentlichte Härtling als Weiterentwicklung des klassischen Briefromans „Hallo Opa – Liebe Mirjam. Eine Geschichte in E-Mails“.
Zu seinen bekanntesten Romanen gehören seine Künstlerbiografien. Härtlings Liebe zur Musik verband sich darin mit der Begeisterung für die schwäbischen Romantiker. Dabei hatten es ihm vor allem die Außenseiter und Grenzgänger angetan: Hölderlin, Schubert, Schumann, E.T.A. Hoffmann oder Wilhelm Waiblinger. Auch wenn dem Erzählton Härtlings gelegentlich eine gewisse Behäbigkeit attestiert wurde, zeichnen sich einige seiner Bücher doch gerade durch formale Kühnheit aus. Die Hölderlin-Romanbiografie etwa folgt nicht nur dem Gang des genialen Dichters in die geistige Umnachtung, sondern reflektiert in harten Einschüben immer wieder auch die Problematik des Erzählens fremder Lebensgeschichten.
Härtlings letztes, 2015 veröffentlichtes Buch handelt von den späten Lebensjahren des Komponisten Giuseppe Verdi. „Für mich ist es der Versuch, auch mein Altern zu erzählen“, erläuterte er. Verdi habe in seinem Spätwerk mit dem Requiem sowie den Opern „Otello“und „Falstaff“ganz zu sich selbst gefunden. „Genau das möchte ich auch erleben.“
Brigitta Negel-Täuber, Christoph Arens, kna/AZ