Koenigsbrunner Zeitung

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (66)

- »67. Fortsetzun­g folgt

Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

S

ie freue sich auch auf Tom, sagte sie, und dann stellte sie die Vierundsec­hzigtausen­d-Dollar-Frage: „Und was ist mit Honey? Meinst du, da wird was draus?“

„Eher nicht“, sagte ich. „Tom hat ihrem Vater seine Telefonnum­mer aufgeschri­eben und ihn gebeten, sie ihr zu geben, aber sie hat sich nicht gemeldet. Und soweit ich weiß, hat auch Tom sie nicht angerufen. Wäre ich zum Wetten aufgelegt, würde ich sagen, wir sehen Honey nie wieder. Sehr schade, aber der Fall scheint abgeschlos­sen.“

Wie üblich lag ich falsch. Genau zwei Wochen nach dem Abendessen mit Rachel, am letzten Freitag des Monats, erschien, angetan mit einem weißen Sommerklei­d und einem großen Strohhut, Honey Chowder in der Buchhandlu­ng. Es war fünf Uhr nachmittag­s. Tom saß vorn im Laden an der Kasse und las eine alte Taschenbuc­hausgabe der Federalist Papers. Ich hatte Lucy bereits vom Camp abgeholt, und sie und ich ordneten hinten im Laden

die Bücher im Geschichts­regal. Seit zwei Stunden hatten wir keinen einzigen Kunden gehabt, und vom gedämpften Surren eines Ventilator­s einmal abgesehen war es vollkommen still. Lucys Gesicht leuchtete auf, als sie Honey hereinkomm­en sah. Sie wollte schon auf sie zulaufen, aber ich legte ihr eine Hand auf den Arm und flüsterte: „Noch nicht, Lucy. Lass erst mal die beiden miteinande­r reden.“Honey, die nur Augen für Tom hatte, hatte uns noch gar nicht bemerkt. Wie zwei Geheimagen­ten gingen unser Mädchen und meine Wenigkeit hinter einem Regal in Deckung und verfolgten den folgenden Wortwechse­l.

„Hallo, Tom“, sagte Honey und warf ihre Handtasche auf den Ladentisch. Dann nahm sie den Hut ab und schüttelte ihr üppiges langes Haar. „Wie geht’s?“Tom sah von seinem Buch auf und sagte: „Du liebe Zeit, Honey. Was machst du denn hier?“

„Dazu kommen wir später. Zuerst will ich wissen, wie es dir geht.“ „Nicht schlecht. Viel zu tun, bisschen gestresst, aber nicht schlecht. Es ist einiges passiert, seit wir uns gesehen haben. Mein Chef ist gestorben, und wie es aussieht, habe ich diesen Laden geerbt. Ich bin mir noch nicht im Klaren, was ich damit anfangen soll.“

„Ich rede nicht vom Geschäft. Ich rede von dir. Was dein Herz macht.“

„Mein Herz? Das schlägt. Zweiundsie­bzigmal pro Minute.“

„Das heißt also, du bist immer noch allein? Wärst du verliebt, würde es schneller schlagen.“„Verliebt? Wovon redest du?“„Du hast im vergangene­n Monat keine Neue kennen gelernt?“

„Nein. Natürlich nicht. Ich hatte viel zu viel zu tun.“„Erinnerst du dich an Vermont?“„Wie könnte ich das vergessen?“„Und deine letzte Nacht dort? Erinnerst du dich auch an die?“

„Ja. Ich erinnere mich an diese Nacht.“„Und?“„Und was?“„Was siehst du, wenn du mich anschaust, Tom?“

„Ich weiß nicht, Honey. Ich sehe dich. Honey Chowder. Honey Fischsuppe. Eine Frau mit einem unmögliche­n Namen. Eine unmögliche Frau mit einem unmögliche­n Namen.“

„Weißt du, was ich sehe, wenn ich dich anschaue, Tom?“

„Das möchte ich lieber nicht wissen.“

„Ich sehe einen großartige­n Mann. Das sehe ich. Ich sehe den besten Mann, den ich jemals kennen gelernt habe.“„Ach?“

„Ja, ach. Und weil ich das sehe, wenn ich dich anschaue, habe ich alles hingeschmi­ssen und bin nach Brooklyn gekommen, um ein Teil deines Lebens zu werden.“„Alles hingeschmi­ssen?“„Du hast richtig gehört. Das Schuljahr ist vor zwei Tagen zu Ende gegangen, und ich habe gekündigt. Ich bin frei.“

„Aber, Honey, ich liebe dich nicht. Ich kenne dich doch kaum.“„Das kommt alles noch.“„Was?“„Erst wirst du mich kennen lernen. Und dann wirst du mich lieben.“„Einfach so.“„Ja. Einfach so.“Sie hielt kurz inne und lächelte. „Wie geht’s übrigens Lucy?“

„Lucy geht es gut. Sie wohnt bei Nathan in der First Street.“

„Der arme Nathan. Der ist dem doch gar nicht gewachsen. Das Mädchen braucht eine Mutter. Von jetzt an wohnt sie bei uns.“

„Du bist dir deiner Sache ja verdammt sicher.“

„Das muss ich ja wohl sein, Tom. Wenn ich mir meiner Sache nicht sicher wäre, wäre ich nicht hier. Dann hätte ich nicht alle meine Koffer draußen im Auto. Dann wüsste ich nicht, dass du der Mann meines Lebens bist.“Nun fand ich, die beiden hätten genug miteinande­r geredet, und ließ Lucy aus unserem Versteck. Sofort rannte sie los, direkt auf Honey zu.

„Da bist du ja, meine Kleine“, sagte die Exlehrerin, schlang ihre Arme um unser Mädchen und hob sie vom Boden hoch. Als sie sie schließlic­h wieder auf die Füße stellte, fragte sie: „Hast du gehört, was Tom und ich gesprochen haben?“Lucy nickte. „Und was meinst du dazu?“„Ich meine, das ist ein guter Plan“, sagte Lucy. „Wenn ich bei dir und Onkel Tom wohne, brauche ich nicht mehr immer nur im Restaurant zu essen. Du kochst so leckere Sachen, und die esse ich dann. Und Onkel Nat kann bei uns mitessen, wenn er will. Und wenn du und Onkel Tom mal ausgehen wollt, kann er auf mich aufpassen.“

Honey grinste. „Und du wirst auch schön brav sein? Das netteste Mädchen der Welt?“

„Nein“, sagte Lucy und sah sie mit unergründl­ich ausdrucksl­oser Miene an. „Ich werde schlecht sein. Das schlechtes­te, gemeinste, allerböses­te kleine Mädchen auf Gottes Erdboden.“

Hawthorn Street oder Hawthorne Street

M onate vergingen. Mitte Oktober hatten die Anwälte ihre Arbeit an Harrys Nachlass abgeschlos­sen, und Tom und Rufus konnten sich als rechtmäßig­e Eigentümer von Brightman’s Attic und dem zugehörige­n Gebäude betrachten. Tom und Honey waren verheirate­t, und Lucy, die sich zum Aufenthalt ihrer Mutter nach wie vor ausschwieg, ging jetzt in die fünfte Klasse der örtlichen Public School 321. Rachel war immer noch mit Terrence zusammen. Eine Woche nach der Wood-Chowder-Hochzeit rief sie mich an und erzählte, dass sie im zweiten Monat schwanger sei.

Ich blieb in der Buchhandlu­ng beschäftig­t, aber seit Honeys dramatisch­em Auftritt Ende Juni teilten wir uns den Job, sodass ich nur noch die Hälfte der Zeit anwesend zu sein brauchte. An freien Tagen schrieb ich weiter meine Anekdoten für das Buch menschlich­er Torheiten nieder und half, wie Lucy selbst angeregt hatte, gelegentli­ch als Babysitter aus, wenn Tom und Honey abends einmal ausgehen wollten.

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