Koenigsbrunner Zeitung

Sie haben ein offenes Ohr für Geschichte­n

- VON ELISA MADELEINE GLÖCKNER

In Friedberg gibt es ein Projekt für Senioren, das in der Region bisher einzigarti­g ist – die „Leseherzen“. Maria Streibl ist 90 Jahre alt und erzählt, warum sie mit dabei ist

Friedberg Stätzling Im Frühjahr ist Maria Streibl 90 Jahre alt geworden. Die betagte Dame lebt alleine in ihrem Haus im Friedberge­r Stadtteil Stätzling, wo sie sich oft einsam fühlt: „Der Tag nimmt kein Ende.“Ihre Stimme klingt etwas zittrig. Um ihren Alltag bunter zu gestalten, hat sich Maria Streibl bei den „Leseherzen“gemeldet. Seither wird sie von Carmen F. und Margit Kirmair besucht – zwei Nachbarinn­en, die ihr vorlesen, ihr zuhören, mit ihr reden, sie unterhalte­n.

Das Projekt „Leseherzen“um Patenschaf­ten zwischen Senioren und ehrenamtli­chen Helfern ist bislang einmalig in der Region. Initiiert haben es Wolfram Grzabka und Gabriela Palm von den Literaturf­reunden Friedberg. Das Bürgernetz Friedberg übernimmt die Organisati­on und die Vermittlun­g von Lesern und ihren Zuhörern. Christine Brookmann erklärt: „Leseherzen findet unter dem Dach der Nachbarsch­aftshilfe statt.“Hier setzen sich Friedberge­r dort für ihre Mitbürger ein, wo sie Unterstütz­ung im Alltag benötigen. „Dabei kann es um Besuche handeln, um einen Einkauf, um Gespräche oder Begleitung­en zu Arzt und Physiother­apeut“, so die Koordinati­onskraft des Bürgernetz­es.

Besonders bei Senioren werde das erweiterte Umfeld immer wichtiger. „Die eigene Familie wohnt vielleicht nicht mehr im Ort, die Kinder sind berufstäti­g, es wird immer schwierige­r, Kontakte zu pflegen“, so Brookmann. Ziel der Leseherzen sei es, die Lebensqual­ität der Senioren zu erhöhen.

Eine dieser Senioren ist Maria Streibl. Sie wartet in ihrem Wohnzimmer auf den Besuch von Carmen und Margit. Bauernmobi­liar trifft Biedermeie­r trifft Prilblumen aus den 1970ern: Der Raum erinnert an vergangene Zeiten. Auf dem Fensterbre­tt stehen ein Dutzend Orchideen. Pflanzen gehören zu den Leidenscha­ften der 90-Jährigen – ebenso wie Vögel. „25 Kilogramm Körner verfüttert sie jeden Monat“, erzählt Carmen, die ihren Nachnamen nennen mag. Spatzen, Stare, Amseln und Sperlinge sind willkommen im Vogelhäusc­hen auf der Terrasse. Nur Elstern nicht. „Das sind Räuber“, sagt Maria Streibl.

Maria Streibl ist kein großer Bücherfan. Früher ja – da habe sie viel gelesen. Heute nicht mehr. Die Seniorin hört nicht mehr gut und ihre Augen werden langsam müde. „Am liebsten mochte ich die Bergromane von Luis Trenker“, erzählt die 90-Jährige. Keine Krimis. Keine Thriller. Es seien die Schicksale gewesen, die sie interessie­rten. Noch vor einigen Jahren habe sie täglich die Zeitung gelesen. Aber die Neugier sei ihr abhanden gegangen. „Ich wollte nichts mehr wissen“, sagt Maria Streibl.

Stattdesse­n erzählt sie – am liebsten bei Biskuitrol­le und einer Tasse Kaffee Haag. „Sie hätte gerne jeden Tag ein Kaffeekrän­zchen“, scherzt Margit Kirmair. Die Geschichte­n Streibls handeln vom Leben, dem Krieg oder von Bildern an der Wand. So ziert etwa das Wohnzimmer ein Gemälde zweier Pferde: Die beiden Kaltblüter ziehen Holz. „Wir hatten damals auch Pferde“, erinnert sich die gebürtige Sudetensic­h deutsche. „Zwei wurden während des Kriegs eingezogen.“In den 1940ern sei sie nach Augsburg gekommen, wo sie ihren späteren Mann kennenlern­te. Fast 50 Jahre war das Paar verheirate­t.

„Bei uns geht es weniger ums Vorlesen, sondern um die Gesellscha­ft“, erklärt Carmen F. Einmal die Woche sieht die Stätzlinge­rin nach ihrer betagten Nachbarin. Immer mit dabei ist Hündin Rosi. „Sie wird von Frau Streibl verwöhnt“, sagt sie und lächelt. Wie Carmen zu den Leseherzen kam? „Meine Mutter und Frau Streibl waren sehr lange befreundet und haben viel miteinande­r unternomme­n.“Ihre Mutter verstarb vor einigen Jahren, nun führt Carmen F. die Besuche bei Maria Streibl fort. Sie hat auch Margit Kirmair für die Leseherzen gewinnen können.

Regelmäßig besuchen die beiden Frauen Maria Streibl, leisten ihr Gesellscha­ft, hören ihr zu. Seit 17 Jahren lebt die alte Dame nun schon alnicht leine. Nur ihre Schwester hat sie noch. Die inzwischen 85-Jährige lebt allerdings in Friedberg. „Ihr fällt das Alleinesei­n nicht so schwer. Sie ist energische­r, entschloss­ener als ich“, denkt Streibl. Obwohl ihre Geschichte­n manchmal bittersüß klingen, hören Carmen und Margit sie gerne. „Sie kann so gut erzählen“, bekräftige­n die beiden. „Leseherzen lesen nicht nur, sie hören auch zu“, sagt Christine Brookmann vom Bürgernetz Friedberg. Allerdings sei die Hemmschwel­le der Senioren oft groß, an die Organisati­on heranzutre­ten. „Die Senioren trauen sich nicht, auf uns zuzukommen“, erklärt Brookmann.

Maria Streibl ist froh, jemanden zum Zuhören gefunden zu haben. Auch Carmen F. und Margit Kirmair freuen sich über die Stunden mit der Seniorin. „Das Leben ist ein Roman“, sagt die 90-Jährige.

»Kommentar

Am liebsten mochte sie die Romane von Luis Trenker Sie lesen nicht nur, sie hören auch zu

OKontakt Menschen, die sich ehren amtlich engagieren möchten als auch Menschen, die gerne vorgelesen bekom men möchten, finden Informatio­nen unter www.buergernet­z friedberg.de oder unter Telefon 0821/2689129

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Foto: Elisa Glöckner Die „Leseherzen“machen sichtlich Freude: Maria Streibl (links) erzählt Margit Kirmair so manch lustige Geschichte. Das Friedberge­r Projekt ist in der Region bislang einzigarti­g.

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