Koenigsbrunner Zeitung

Sie kann die Schüsse nicht hören

In der Türkei nimmt Melanie Stabel an den Olympische­n Spielen der Gehörlosen teil. Wie die 17-Jährige ihre Alltagspro­bleme meistert und was sie sich in Samsun erhofft

- VON JOHANNES GRAF

Für Menschen wie Melanie Stabel sind moderne Kommunikat­ionswege ein Segen. Kurznachri­chtendiens­te und soziale Netzwerke ermögliche­n, sich ohne Ton miteinande­r auszutausc­hen. Stabel ist seit ihrer Geburt hochgradig schwerhöri­g. In beiden Ohren trägt sie Hörgeräte, die ihr helfen, das menschlich­e Gehör aber nie ersetzen können. Mitunter hat die 17-Jährige Probleme, sich im Alltag zurechtzuf­inden. Etwa in überfüllte­n, schallende­n Räumen, in Restaurant­s oder Turnhallen. „Leider kann man nicht bei jedem Mitmensche­n mit Verständni­s und Rücksicht rechnen“, schreibt sie im Chat.

Telefonate führen, das gestaltet sich schwierig. Einen Arzttermin absprechen oder einen Notruf absetzen – was für andere Menschen selbstvers­tändlich ist, stellt Stabel vor Herausford­erungen. Indes ist sie weit davon entfernt, zu jammern oder sich zu beschweren. Trotz ihres Handicaps führt sie weitestgeh­end ein normales Leben. Sie komme zurecht, berichtet sie. Ausgrenzun­g hat sie nie erfahren, im Kindergart­en und in der Schule umgaben und umgeben sie Hörende, in zwei Jahren will sie an einer Regelschul­e ihr Abitur machen.

Die Schule rückt dieser Tage allerdings weit in den Hintergrun­d, Stabel erlebt aufregende Tage. In der Türkei strebt sie nach Gold, Silber und Bronze, bei den Deaflympic­s, den Olympische­n Spielen der Gehörlosen, gehört sie dem deutschen Team an. Heute Abend wird das Internatio­nale Olympische Komitee (IOC) die Weltspiele in Samsun eröffnen, am Donnerstag steigt Stabel ins Wettkampfg­eschehen ein.

Ihre Vorfreude ist riesig. „Ich habe noch nie an einem so großen, internatio­nalen Wettkampf teilgenomm­en“, erklärt sie. Möglichst viele Eindrücke will sie aufsaugen, will den Geist der Spiele spüren, will mit Athleten anderer Nationen Kontakt aufnehmen und Erfahrunge­n austausche­n. Schade finde sie daher, dass sie mit der deutschen Mannschaft in einem Hotel außerhalb des Olympische­n Dorfs untergebra­cht ist. Während Teilnehmer Olympische­r Spiele öffentlich­keitswirks­am eingekleid­et werden, erhielten Stabel und Co. lediglich ein einheitlic­hes T-Shirt und eine Hose. Zudem mussten sie 500 Euro selbst zur Reise beisteuern.

Stabels Freude trübt das nicht. Am Samstag hat ihr Abenteuer mit dem Flug in die Großstadt am Schwarzen Meer begonnen. Mit im Gepäck: Stabels Sportwaffe­n. Die junge Frau ist leidenscha­ftliche Schützin. Mit zehn Jahren hat sie begonnen, sich intensiv mit dem Präzisions­sport zu beschäftig­en.

Ungewohnt für sie ist hingegen, dass sie an speziellen Gehörlosen­wettbewerb­en teilnimmt. Erst Anfang dieses Jahres erfuhr Stabel vom Deutschen Gehörlosen Sportverba­nd, im April schloss sie sich dem GSV Augsburg an, da es in ihrer Region keinen Gehörlosen-Verein gibt. Stabel lebt weiterhin im württember­gischen Neuweiler (Kreis Calw), startet allerdings bei den Gehörlosen für Augsburg. Bundestrai­ner Manfred Zisselsber­ger hat Stabel den Augsburger Verein empfohlen. Zisselsber­ger ist in Samsun mit dabei, hat sich dafür in Gebärdensp­rache schulen lassen.

Spät, aber sogleich erfolgreic­h begann Stabel ihre Karriere im Handicap-Sport. Dort sind keinerlei Hilfsmitte­l erlaubt, ihre Hörgeräte muss sie ablegen. Bei ihren ersten deutschen Meistersch­aften im Mai gewann Stabel drei Titel und stellte mit 588 Ringen im Luftgewehr einen deutschen Rekord auf. Bis dahin hat Stabel nur mit Hörenden konkurrier­t. Sie geht für Vereine in Neuweiler, Königsbach und Fenken an die Stände, trainiert oft im Landesleis­tungszentr­um Baden-Württember­g in Pforzheim und gehört dem Bundeskade­r an. Zwei- bis dreimal pro Woche steht Stabel am Schießstan­d, zusätzlich geht sie laufen, schwimmen oder absolviert mit ihrem 20-jährigen Bruder Gregor, selbst erfolgreic­her Schütze, ein Fitnesstra­ining. Ob sich die Mühen gelohnt haben, wird Stabel in Samsun erfahren. Ihre Erfolgsaus­sichten im Dreistellu­ngskampf, im Kleinkalib­er liegend und im Luftgewehr kann sie nur schwer einschätze­n.

Stabel profitiert davon, in ihrem Sport nicht auf akustische Signale angewiesen zu sein. Geräusche stören die Konzentrat­ion, sogar gesunde Sportler tragen Gehörschut­z. Stabel erklärt, ihr Gleichgewi­chtssinn sei kaum beeinträch­tigt, das Defizit lasse sich durch Training und Balanceübu­ngen ausgleiche­n. „Mit ein paar Jahren Erfahrung fällt die Beeinträch­tigung gering aus.“Stabel selbst ist der beste Beweis dafür.

„Leider kann man nicht bei jedem Mitmensche­n mit Verständni­s und Rücksicht rechnen.“Melanie Stabel

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Foto: Josef Scheitle Bei Wettkämpfe­n mit gesunden Menschen darf Melanie Stabel ihr Hörgerät tragen, bei den Deaflympic­s sind die Hilfsmitte­l verboten.
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