Wenn die Oper aus dem Guckkasten sich herauswagt
Musiktheater Bei den Salzburger Festspielen gibt es Monteverdis „Orfeo“halbszenisch, verantwortet von einem eigenwilligen Dirigenten
In diesem Jahr gibt es was zu feiern für alle, die ihr Herz an die Oper verloren haben. Vor 450 Jahren wurde jener Komponist geboren, der die Oper zu jener mit allen Sinnen ergreifenden Kunstform gemacht hat, wie wir sie heute kennen: Claudio Monteverdi. Zu feiern hat da natürlich auch John Eliot Gardiner, der große englische Dirigent, der von sich sagt: „Seit meiner frühesten Jugend hat Monteverdi einen festen Platz in meinem Leben.“Der 74-Jährige begeht das Jubiläum auf besondere Weise. Das ganze Jahr hindurch führt er in neun verschiedenen Ländern alle drei erhalten gebliebenen Opern des Komponisten – „Orfeo“, „Il ritorno d’Ulisse in patria“, „L’incoronazione di Poppea“– als Zyklus auf. Bei den Salzburger Festspielen hat Gardiner nun mit dem „Orfeo“begonnen, jenem Geniestreich Monteverdis, dessen Uraufführung 1607 die Geburtsstunde der Oper im engeren Sinn markiert.
Wobei das Aufführen bei Gardiner diesmal doppelten Sinn besitzt. Nicht nur, dass der Dirigent das musikalische Geschehen leitet; er ist, zusammen mit Elsa Rooke, auch für die Regie verantwortlich. Sein Ansatz lautet: „Mir widerstrebt es, die Guckkastenbühne als einzig möglichen Ort für eine Opernaufführung anzusehen.“Mit der Folge, dass Gardiner weitgehend auf die Herstellung von Illusion verzichtet (von anderen Regie-Kniffen ganz zu schweigen) und sich die Handlung der Bühne somit nur in Andeutungen – halbszenisch gewissermaßen – entfaltet.
In Salzburg macht Gardiner sich die spektakuläre Szenerie der Felsenreitschule zunutze, jenes barocken „Theaters“mit seinen in den Fels gehauenen Arkaden, die für sich genommen schon Kulisse genug sind und die mittels Lichtwechsel, der die Bogengänge in unterschiedlichen Farben leuchten lässt, einen Spiegel abgeben für die Stimmungen des Geschehens – mal heiter, mal bedrückend. Davor, auf der riesigen Reitschulbühne, hat Gardiner sein Orchester positioniert wie auch Solisten und Chor. Doch all diese Sänger, angetan mit dezent antikisierenden Gewändern, stehen nicht einfach statisch da, sondern bewegen sich im Gestus der Musik, vollführen angedeutete Tänze, nehmen gestisch und mimisch Anteil an den mythologischen Ereignissen. Und da, wo die Protagonisten ihre Soloauf szenen haben, treten sie nach vorn und singen und agieren in besagtem halbem Spiel. Bewegung auf der Bühne gibt es auch durch Auf- und Abtritte, etwa wenn die Unglücksbotin herannaht, die Orpheus den Tod seiner Eurydike kündet.
„Ich bin davon überzeugt“, sagt Gardiner, „dass die Fantasie der Zuhörer unendlich viel mehr leisten kann als jeder Regisseur.“Das ist gewiss übers Ziel hinaus geschossen, verkennt die Leistung szenischer Interpretation. Aber es geht Gardiner wohl gar nicht um ein Denunzieren der Regiekunst. Sein Salzburger „Orfeo“zielt darauf ab, den Kern von Monteverdis musikalischem Genie herauszuschälen: die wegweisende Verbindung des „recitar cantando“, des singenden Erzählens, mit der „seconda pratica“, der Gestaltung der Musik nach den Erfordernissen des Textes. Eine Verbindung, die nun seit 400 Jahren das Wesen allen gelungenen Musiktheaters ausmacht: dass es zu rühren, zu ergreifen vermag.
Um nicht nur schöne Klänge herzustellen, sondern plausibel zu machen, weshalb Monteverdi gerade an dieser und jener Stelle der Erzählung sich für diese und jene Harmonien und instrumentalen Farben entschieden hat, greift Gardiner zu einem radikalen Mittel. Er fährt den Temporegler drastisch runter. Schon im ersten Ritornell nach der berühmten Eröffnungsfanfare, dort, wo andere Dirigenten eine heitere Hirtenwelt aufrufen, lässt Gardiner nur bedächtige Bewegung zu, taucht er die Schäfer-Lustbarkeit von Anbeginn in ein vorauswissend-melancholisches Licht. Langsamer Puls schlägt auch im Weiteren, fast scheint es zur Manier zu werden, würde Gardiner punktuell nicht doch noch aufdrehen und würden seine zumeist ätherisch intonierenden English Baroque Soloists nicht losfetzen und den herrlich lebensvoll singenden Monteverdi Choir aufjauchzen lassen. Auch wenn man den sich hypervorsichtig vortastenden Gardiner manchmal regelrecht anschubsen möchte, eines muss man seiner Methode lassen: Der Eindruck vom Ineinander von Wort und Ton ist überwältigend.
Das Ensemble solistischer Sänger, das der Dirigent um sich geschart hat, ist herausragend. Allen voran der Tenor Krystian Adam in der Titelrolle, der mit außerordentlicher Emphase und stupenden sängerischen Mitteln die weiten Gefühlslandschaften des Hochgestimmtseins, Verzweifelns, Bangens, Resignierens durchschreitet. Eindrucksvoll auch Gianluca Buratto in der Doppelrolle des Charon und Pluto, nicht nur durch die ehrfurchtgebietende Schwärze seiner Stimme, sondern auch durch sein quasimodohaftes Agieren als LetheSchiffer, der gepackt wird von der Macht der Musik. Glänzend auch die so feingliedrig wie seelenvoll singende Hana Blazikova als Eurydike und als Allegorie der Musik. Wobei die große Stunde dieser wunderbaren Sängerin erst noch mit der Poppea am letzten Monteverdi-Abend schlagen wird – wie denn auch alle anderen Sänger dieses heftig beklatschten „Orfeo“in den übrigen Teilen des Zyklus zu erleben sein werden. Beste Aussichten also.
Er fährt die Temporegler drastisch herunter
OEine Aufzeichnung von Monteverdis „L’Orfeo“in der gleichen Besetzung aus dem Gran Teatro La Fenice zeigt 3sat am Samstag, 29. Juli, um 20.15 Uhr