„Schweigen ist wie ein Wundverband“
Historikerin Marita Krauss spricht zur Aktion „Königsbrunn liest ein Buch“. Die Zuschauer ergänzen den Vortrag durch eigene Erfahrungen als Vertriebene oder Alteingesessene
Königsbrunn Hier prallen Theorie und Praxis aufeinander – und sie ergänzen sich hervorragend. Uniprofessorin Marita Krauss hat dabei den theoretischen Part. Sie spricht über ihre Forschungsarbeiten zu Migrationswellen und über die Ängste der Menschen. „Angst, egal ob die Flucht erzwungen wurde oder freiwillig geschah, begleitet das Thema und ist die große Klammer über allem.“
Den direkten Bezug zum praktischen Erleben haben die Zuhörer. Unter ihnen ist Hansi Metzner, Witwe von Altbürgermeister Adam Metzner und als Vertriebene nach dem Zweiten Weltkrieg viele Jahre Kreisfrauenreferentin der Sudetendeutschen Landsmannschaften. Metzner kennt die Seite der Vertriebenen aus vielen Blickwinkeln.
Die Perspektive der Alteingesessenen kann Altlandrat Karl Vogele schildern. Er war noch ein kleiner Bub, als zwei Familien der Familie Vogele zugeteilt wurde, fortan war es eng auf dem Hof. „Da war man auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen.“
Zu diesen Erfahrungsberichten und der heutigen Flüchtlingswelle entspinnt eine lebhafte Diskussion, die Krauss immer wieder mit Fakten ergänzt. Beispielsweise den Aspekt, dass heutige Migranten durch moderne Kommunikationsmöglichkeiten weitere Migranten aus ihren Heimatländern nachziehen. „Bereits im 19. Jahrhundert gab es eine Kettenmigration“, so Krauss, damals von Europa nach Amerika. „Der Erste hatte eine Passage nach USA und schrieb seine Erfahrungen nach Hause.“
2,4 Millionen Briefe überquerten in dieser Zeit den Atlantik. Zwei Drittel der späteren Passagen wurden dann von den bereits Immigrierten bezahlt, ein deutlicher Beleg dafür, dass auch schon damals Migration eine Kettenreaktion auslösten. „Neu ist dabei die Dimension, denn es gab noch nie so viele Menschen auf der Welt wie heute.“
Marita Krauss ist Professorin für Schwäbische Landesgeschichte an der Universität Augsburg. Sie referiert im Rahmen der Aktion „Königsbrunn liest ein Buch“in der Stadtbücherei. „Die Angst als Wegbegleiter“heißt ihr geschichtlicher Vortrag über Migration, Heimatverlust und Heimatgewinn in den Jahren 1938, 1945 und 2017.
Auch die Geschichte der Protagonistin im Stadtbuch erzählt von der Fluchterfahrung, dem Neuanfang und der Unfähigkeit über vieles, was die Menschen damals erlebten, sprechen zu können.
Nach dem Tod ihres Sohnes zieht die Erzählerin eine Bilanz ihres Lebens an der Seite ihres kriegsversehrten Mannes. Sie schildert vom Aufbau ihres Textilgeschäftes und dem Leben als Mutter eines Sohnes, den sie nicht vorbehaltlos lieben kann. Denn seine Existenz beruht womöglich auf einer traumatischen Gewalterfahrung, die sie zeitlebens verdrängt hat.
„Migrationsschicksale begleiten die Menschen das ganze Leben durch und sie sind keine Einzelschicksale,“schließt Krauss den Kreis von Forschung zum Stadtbuch. „Das Schweigen war wie ein Wundverband.“Die heimgebliebenen Frauen waren Gewalt und Vergewaltigung ausgesetzt und die heimgekehrten Männer waren durch die Kriegsgeschehnisse traumatisiert. „Da war die Frage, was berichtet man und über was redet man lieber nicht.“
Die Aktion „Königsbrunn liest ein Buch“ist ein gemeinsames Projekt von Kulturbüro, Stadtbücherei und Königsbrunner Literaturkreis. Als Stadtbuch wählten die Organisatoren „Tagesanbruch“von HansUlrich Treichel.