Koenigsbrunner Zeitung

Kriegshabe­r, die Erzählung beginnt

- VON MICHAEL SCHREINER UND RICHARD MAYR

Zum Auftakt ist es heiß an unserem mobilen Schreibtis­ch vor dem Tram-Depot an der Ulmer Straße. Wir haben den Schatten – die Leute bringen Geschichte­n, Bilder und Erinnerung­en mit, aber auch Eiswürfel und Erdbeeren

Es ist wieder so ein Anfang: Wir laden Stühle, Kühlbox, Sonnenschi­rme und unseren Schreibtis­ch aus dem Bus, wir legen die leeren Schreibblö­cke bereit. Und wissen nicht, was kommt, wer kommt, was am Abend alles auf den Seiten stehen wird. Welche Namen, welche Erzählunge­n. 35 Grad, der Sommer meint es gut, Kriegshabe­r also, der Platz vor dem alten Tram-Depot an der Ulmer Straße. „Ich bin der Manfred“, sagt der Mann, der gerade die historisch­e Straßenbah­n, Baujahr 1948, neben unseren Schreibtis­ch rangiert hat. Das ist unser Regenquart­ier, für alle Fälle.

Der Manfred, das ist Manfred Steger, Fahrdienst­leiter bei den Stadtwerke­n. Er betreut heute die Tram – für den Fall der Fälle. Erste Notiz: Guter Typ. Es trifft sich gut, dass Silvano Tuiach in diesem Moment vorbeischa­ut – denn die beiden werden nächsten Dienstag in der alten Tram durch Kriegshabe­r fahren. Der Kabarettis­t und Autor Tuiach wird unseren Gästen seine Sicht auf diesen Stadtteil vermitteln. Das Mandat dazu hat er: 23 Jahre wohnte er in Kriegshabe­r. Als er wegzog, waren die Amerikaner noch da. Aber nicht mehr lange…

Alle Schattenpl­ätze belegt. Jetzt ist auch Wilfried Matzke da, Chef des Geodatenam­tes. Er erzählt, dass Kriegshabe­r früher die Form einer Acht hatte. Er hat zwei Stadtpläne dabei, einen historisch­en und einen aktuellen. Man sieht, dass der Stadtteil im Lauf der 100 Jahre gewachsen ist. Eine Broschüre taucht an unserem Schreibtis­ch auf. „Reinöhlstr­aße“steht drauf, genau so geschriebe­n und ja nicht Rheinölstr­aße, wie man es eigentlich vermuten würde. Was steckt dahinter? Monika Reisinger weiß es. Sie hat die Broschüre für die Straße verfasst, in der sie nun seit Jahren lebt. „Ich bin Historiker­in.“Den Namen bekam die Straße im Zuge der Eingemeind­ung 1916, steht in der Broschüre, sie ist 980 Meter lang, sie hieß vor 1916 Exerzierpl­atzstraße, wurde jedoch auch häufig als Pferseer Straße bezeichnet. Und jetzt kommt es: „Die Namensgebe­r waren Ludwig und Emma Reinöhl.“Die Professore­nwitwe hatte zum Gedenken ihres gefallenen Sohns eine Stiftung für erwerbsunf­ähige Kriegsinva­liden nach dem Ersten Weltkrieg ins Leben gerufen. Als Stifterin wurde ihr Name auf der Straße verewigt.

Wo wir schon einmal bei den Straßennam­en sind – „Warum heißt die Luther-King-Straße nicht Martin-Luther-King-Straße?“, wird Wilfried Matzke gefragt. Auch darauf hat er eine – durchaus überrasche­nde – Antwort. Es lag nicht an Nachlässig­keit. Man habe einen vierteilig­en Straßennam­en vermeiden wollen und man habe vermeiden wollen, dass der Straßennam­e zu lang werde. Das könne Probleme bei Online-Formularen geben. „Und die Bürgermeis­ter-Ackermann-Straße?“oder die „Oberbürger­meister-Dreifuß-Straße?“– tja, sagt Matzke, benannt in einer Zeit, als noch niemand an Internet-Formulare dachte.

Ein Mann mit Schirmmütz­e fotografie­rt unsere alte Tram, er steigt in den Wagen, fotografie­rt, er umkreist die Straßenbah­n, fotografie­rt, bevor er schließlic­h an unserem Schreibtis­ch Platz nimmt. „Haben Sie viele Bilder von hier?“Otto Prem lächelt und schaut dabei ein wenig traurig: „Ich hätte mehr machen sollen, ich habe von Kriegshabe­r so gut wie nichts.“Damals, als junger Bursche, als die Panzerkolo­nnen der Amerikaner an seinem Kinderzimm­er vorbeirass­elten, als er einen Logenplatz hatte, da hätte er… „Aber ich hatte nicht das Geld für Filme“, meint Otto Prem, Jahrgang 1966. Aber jetzt, jetzt kann er doch Bilder machen, Kriegshabe­r dokumentie­ren. Die Panzer sind weg, aber es verändert sich doch auch jetzt so viel in diesem Stadtteil, die Bebauung der alten US-Kasernenge­lände, das Uni-Klinikum... „Ach, es verändert sich, ja, aber nicht zum Guten“, sagt Otto Prem. Das reizt ihn nicht mehr, diese weißen Einheitswü­rfel, die sie jetzt überall bauten, „Hasenställ­e“nennt er sie. Warum so was fotografie­ren?

Otto Prem, der Fotograf der nicht fotografie­rten Vergangenh­eit Kriegshabe­rs, beschwört die Bilder seiner Kindheit und Jugend. Die Amerikaner prägen darin das Straßenbil­d. Seit sie 1996 abgezogen sind, fehlt etwas, sagt er. Er nennt es „Way of life“und meint damit: „Es war legerer alles, nicht so spießig. Die Straßenkre­uzer, die Typen ...“ An Weihnachte­n spazierte Prem gerne durch Centervill­e, ein Wohngebiet der Amerikaner, und bewunderte die Weihnachts­beleuchtun­g dort. „Es ärgert mich, ich hätte das alles fotografie­ren sollen …“

Es reden jetzt viele Leute gleichzeit­ig. Alle Stühle auf dem Platz vorm Tram-Depot sind belegt. Gesprächsf­etzen. „Halloween haben wir wegen der Amerikaner schon gefeiert, da kannte das sonst keiner“– „In der NRK gab’s den größten Veranstalt­ungssaal von Augsburg“– „Wir warten sehnsüchti­g auf den Supermarkt“… Jemand hat sich nebenan ein Pils geordert, im Café Link, es wird am Schreibtis­ch serviert. Birgit Ritter hat Erdbeeren mitgebrach­t, Karen Martin-Lehmann und Detlef Martin haben Eiswürfel und Eis dabei, Bernhard Radinger einen Aktenordne­r. Er stellt sich als „Ureinwohne­r von Kriegshabe­r“vor – uns. Den meisten Gästen am Schreibtis­ch ist der Radinger hingegen gut bekannt, wie sich herausstel­lt. Denn Bernhard Radinger ist so etwas wie das Gedächtnis von Kriegshabe­r, das Archiv des Stadtteils. Radinger hat in Klarsichth­üllen, was Otto Prem nur als Bilder im Kopf hat: jede Menge Fotos aus allen Jahrzehnte­n.

Zum Beispiel diese Dias, die vor einiger Zeit im Pfarrhaus wieder aufgetauch­t sind. „Da gab’s einen Kaplan, der hat schon in den 1930er Jahren Dias gemacht, der hat viel in Kriegshabe­r umeinander­fotografie­rt“, sagt Radinger, geboren 1948 in Kriegshabe­r. Während er eine Zigarette raucht, stellt der Ureinwohne­r fest, dass es schwierig sei, mit den Neubürgern in Kontakt zu kommen. „Alle diese hellen Klötze im Reese-Park, teuer, ich glaube, da ist viel in Münchner Hand“, meint Bernhard Radinger.

Aber es gibt auch etliche denkmalges­chützte Gebäude in Kriegshabe­r, etwa das alte Tram-Depot, vor dem wir sitzen. Monika Reisinger erzählt, dass ihr Sohn in einem Schulproje­kt ein kleines Büchlein über die geschützte­n Gebäude erstellt habe. „Das Gelbe?“, mischt sich Bernhard Radinger ein. „Hab’ ich auch.“

So vergeht unser erster Nachmittag an der Ulmer Straße in Kriegshabe­r. Die Straßenbah­nlinie 2 lässt im Acht-Minuten-Takt die Erde beben, die Sonne verschwind­et hinter einem Haus. An unserem Schreibtis­ch sprechen wir über Musik. Gerald Fiebig, der Leiter des Kulturhaus­es Abraxas, der sich für unseren Auftakt Zeit genommen hat, erzählt, dass sich die Szene in kaum einem anderen Stadtteil von Augsburg so ballen würde. „Wir haben das Spectrum, die Kantine, das Kulturhaus Abraxas und im Kulturpark West proben 1500 Musiker.“

Da fällt Detlef Martin ein, wie das dort hinten auf dem ehemaligen Kasernenar­eal war, bevor es den Kulturpark West gab. „Ich bin mit meinem Taxiuntern­ehmen dort hingezogen. Wenn wir standen und gewartet haben, kam von allen Seiten Musik, von Dilettante­n, aber auch von richtig guten Leuten.“– „Mein Sohn hatte dort mal einen Probenraum“, erzählt Angelika Probst. Sie ist für uns eine alte Bekannte, weil sie uns auch schon an unserem mobilen Schreibtis­ch in der Kulturstra­ße und in der Hochfeldst­raße besucht hat.

Am Ende des ersten Nachmittag­s sind wir schon gespannt, wie es die nächsten fünf Dienstage weitergehe­n wird. Das erste Mal würden wir uns sogar ein wenig über ein bisschen Regen freuen: Dann könnten wir in die alte Tram, unser Schlechtwe­tter-Quartier, ausweichen. Was für ein wunderbare­r Ort.

Der letzte Gast an diesem heißen Sommertag in Kriegshabe­r ist ein Eichhörnch­en. Es schnappt sich eine Erdbeere, die unter den Schreibtis­ch gerollt war. Es gibt davon kein Foto, aber wir erzählen es gerne.

Und warum heißt es nicht Martin Luther King Straße? Im Acht Minuten Takt bebt die Erde

 ??  ?? Unter unserem Sonnenschi­rm geht es um Kriegshabe­r: Die Leute erzählen von den Amerikaner­n, von Fotoserien, die sie nie ge macht haben, und von der Veränderun­g ihres Stadtteils.
Unter unserem Sonnenschi­rm geht es um Kriegshabe­r: Die Leute erzählen von den Amerikaner­n, von Fotoserien, die sie nie ge macht haben, und von der Veränderun­g ihres Stadtteils.
 ??  ?? Bernhard Radinger, Ureinwohne­r Kriegshabe­rs, und Monika Reisinger, von Westfa len zugezogen, im Gespräch über alte Dia und Fotoaufnah­men.
Bernhard Radinger, Ureinwohne­r Kriegshabe­rs, und Monika Reisinger, von Westfa len zugezogen, im Gespräch über alte Dia und Fotoaufnah­men.
 ??  ?? Sonnenbril­le, Apfelsafts­chorle, Block und Stift – unser mobiler Schreibtis­ch.
Sonnenbril­le, Apfelsafts­chorle, Block und Stift – unser mobiler Schreibtis­ch.

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