Der Schotte im Rockmusik-Geschäft
Mit Sex, Drugs und Rock ’n’ Roll hatte Ian Anderson nie etwas am Hut. Seine Bandkollegen von Jethro Tull mussten die Rechnungen der Minibar selbst bezahlen
Die Augen hat er weit aufgerissen, seinen Körper balanciert er auf einem Bein. Die Querflöte bläst er nicht nur, nein, er gurrt und grunzt hinein. So hat Ian Anderson das Instrument für die Rockmusik adaptiert. Es ist sein Markenzeichen und das seiner Band Jethro Tull. Dazu hat er in den 1970er Jahren mal das Gewand eines mittelalterlichen Narren getragen, dann das eines elisabethanischen Gauklers, eines englischen Junkers, eines schottischen Gutsherren.
Wie die Rock-Musik funktionierte, hatte Anderson genau verstanden. Mit einem feinen Gespür hatten er und Jethro Tull sich als das Anti-Rockmusik-Modell präsentiert. Die Bandmitglieder kokettierten nicht öffentlich mit Drogen. Stattdessen musste jeder Musiker bei den Tourneen die Rechnungen der Hotel-Minibar selbst bezahlen. Musik war für die Briten ein Job, der morgens um acht Uhr begann. So etwas passiert, wenn ein Schotte der Kopf einer solchen Band ist.
Auf der Bühne allerdings legte Anderson alle Nüchternheit ab, da gab er den Derwisch, der sich die Querflöte gerne auch mal zwischen die Beine klemmte und mit den Händen ganze imaginäre Orchester mit wildestem Ausdruckstanz dirigierte, während Martin Lancelot Barre – die zweite Säule der Band – seine E-GitarrenSoli spielte. Musikalisch sind vor allem die 1970er Jahre die produktivste Zeit von Ian Anderson und Jethro Tull. Jedes Album klingt anders. Vom rockigen Album „Aqualung“mit dem Tull-Hit „Locomotive Breath“geht es zu den Konzeptalben „Thick As A Brick“und „A Passion Play“, die beide nur aus einem Musikstück bestehen und nur dadurch unterbrochen werden, dass die Schallplatte einmal umgedreht werden muss. Auf das Album „Too Old to Rock ’n’ Roll: Too Young to Die!“(1976) folgen 40 weitere Jahre Bandgeschichte. Wiewohl man sagen muss, dass diese Bandgeschichte entschieden zu lang fortgeschrieben wurde. Wenn es nur die 1970er Jahre für Ian Anderson und „Jethro Tull“gegeben hätte, wäre es nie bergab gegangen. Die Alben der 1980er Jahre waren noch ansehnlich („The Broadsword And The Beast“, „Crest of a Knave“) und „Catfish Rising“1991 kann sich auch mit den starken Alben der 1970er Jahre messen; aber die Jahrzehnte auf der Bühne forderten bei Anderson Tribut. Seine Stimme brach weg. Die hohen Töne konnte Anderson nur noch markieren, indem er sich vorne auf der Bühne auf die Zehenspitzen hinaufschob. Das tat und tut weh.
Jenseits des Lebens im Showgeschäft ist Anderson ein Mann erstaunlicher Nüchternheit, der sein Geld in Lachsfarmen angelegt hatte und Rock-Magazinen erklärte, dass er in seiner Freizeit nicht Musik höre, sondern lieber Filme schaue. Noch immer gibt Anderson Konzerte. Nach seinem 70. Geburtstag am heutigen Donnerstag will er mit einem Jethro-Tull-Programm durch die USA touren. Richard Mayr