Koenigsbrunner Zeitung

Dr. Kling, Kriegshabe­r und das Y in Dyrk

- VON MICHAEL SCHREINER UND RICHARD MAYR

Ausflüge mit der historisch­en Tram in die Vergangenh­eit und Alltagskul­tur eines Stadtteils mit Geschichte und Geschichte­n: Über 100 Besucher erzählen von ihrem Mittelpunk­t der Welt

14 Uhr. Kriegshabe­r ist hell und leer und still an diesem Augsburger Feiertag, 8. August, Friedensfe­st. Die alte Tram aber, die jetzt um die Ecke biegt, ist voll und laut. Heiß ist es, Frauen wedeln mit Fächern, Männer schwitzen ergeben – und Silvano Tuiach, der mit kräftiger Stimme das Quietschen des Oldtimers übertönt, fragt auf Höhe Ulmer Straße 204 in den Wagen: „Wer ist alles vom Doktor Kling behandelt worden?“Fächer sinken, Arme schnellen hoch. Fast alle, wie es aussieht. „Noch vom alten Doktor Kling oder schon vom Sohn?“

Die Hausarztfr­age ist typisch für diesen zweiten Tag unserer Sommerseri­e „Kultur aus der Ulmer Straße“. An diesem Dienstagna­chmittag wird die Straßenbah­n (Baujahr 1948) dreimal hintereina­nder durch Kriegshabe­r wackeln und schaukeln – jedes Mal voll besetzt, inklusive Stehplätze­n. Und dreimal ist der Kabarettis­t Silvano Tuiach, der auch Autor für unser Feuilleton regional ist, als Erzähler mit an Bord. Der 67-Jährige, der 23 Jahre in Kriegshabe­r gewohnt hat, unterhält die Gäste launig und ortskundig und bindet sie mit ein – ob es nun um die Frage geht, warum sein altes Wohnvierte­l „Klein Russland“hieß oder wer den alten Lebensmitt­elladen Grießhamme­r noch gekannt hat und natürlich das „Luxor“-Kino.

Tuiach zelebriert Kriegshabe­r, er adelt den „Häschen-Club“als „einzigen 5-Sterne-Puff in Deutschlan­d“, er ruft Erinnerung­en ans „Café Schäfer“auf und erzählt von der Tafel in der Gaststätte Kaiserlind­e, wo er einst als Lockangebo­t las: „Maß Goiß 4,90 Euro, 5 Maß Goiß 25 Euro“. Die Tram wird zu einem Erinnerung­sraum – wir sitzen im Kopfkino Kriegshabe­r. Tuiach erzählt vom „Ami-Plärrer“(also dem Deutsch-amerikanis­chen Volksfest) und lässt sich bestätigen, dass „die Ackermanns­traße früher ja bloß bis zum Listle ging“.

Unsere mobilen Schreibtis­che – inzwischen sind es zwei, wir mussten ausweiten – vor dem alten Tram-Depot sind an diesem zweiten Dienstag nicht nur Ausgangspu­nkt für Exkursione­n in die Vergangenh­eit und Alltagskul­tur Kriegshabe­rs. Die Leute, die von einer Tour zurückkomm­en, bleiben, haben das Bedürfnis, zu erzählen, miteinande­r zu reden, zu hören, was andere denken. Das gemeinsame Befragen von Erinnerung­en lässt so etwas wie einen Kriegshabe­r-Sound entstehen. Wer ein Fotoalbum mitgebrach­t hat, ist sofort umlagert. Das alles ist mehr als nur nostalgisc­hes Seufzen – man diskutiert Veränderun­gen, vergewisse­rt sich, wie die eigene Biografie Teil einer größeren Geschichte ist, welche Umstände die Lebensbedi­ngungen geformt haben – und was das eigentlich heißt, dieses „Es hat sich wahnsinnig viel verändert“.

Helga Köhler, 80, ist aus Königsbrun­n rübergekom­men. Sie wohnt längst woanders, aber Kriegshabe­r ist ihr Herzensang­elegenheit. Es gibt da eine Liste, die sie aus der Handtasche zieht. Zwei Seiten, überschrie­ben mit „Aus Kriegshabe­r ganz verschwund­en“. Und dann geht es von A wie Apotheke (Kollerbum) über B wie Bauern (Steppich, Kraus) über F wie Friseur (Einweck, Maisch, Haucke, Rohmann) bis Z wie Zigarren (Dörle). Alles recherchie­rt, eine Art Denkschrif­t gegen das Verschwind­en, eine Bestandsau­fnahme. Allein der Klang all der Namen entfacht an unseren Schreibtis­chen immer neue Erörterung­en. N wie Näherinnen: Kohler, Eisele, Demharter – „ja, stimmt“. Aufgeführt auf Helga Köhlers Liste – und allein dafür hat sich dieser Nachmittag gelohnt – ist unter I wie Institutio­n auch: „Turnstunde mit Dora“.

Da sind sie also, die Kriegshabe­rSpezialis­ten, die das Vergänglic­he sammeln und die Erinnerung­en bewahren. Köhler hat das außerdem in einer Familiench­ronik getan, die gleichzeit­ig auch eine Stadtteilc­hro- ist: „Huber – Stuhler – Wiblishaus­er“. Dort steht dann zum Beispiel, dass ihr Großvater, ein Schreinerm­eister, beim Bau des Kindergart­ens in Kriegshabe­r nach einem Sturz vom Dach starb.

Silvano Tuiach, der zwischen seinen Tram-Touren eintaucht in diesen Kosmos, hört genau zu. Derweil machen Manfred Steger und sein Team die alte Tram fertig für die nächste Runde rauf zum Zentralkli­nikum und wieder zurück. Köhler und Tuiach steigen ein.

Die alte Tram schafft auch an unseren beiden Schreibtis­chen Bewegung. Nach jeder Fahrt sitzen dort andere Besucher. Erna Ruppennik stein, 84, verzichtet auf die Fahrt. Ihr Kriegshabe­r kennt sie in- und auswendig. Sie hat an diesem Dienstag ein besonderes Anliegen. „Kriegshabe­r, das war nach dem Krieg das Zentrum der freien Presse“, erzählt sie uns. Ruppenstei­n weiß das nicht aus einem Buch, sie hat es sich nicht angelesen, sie hat es erlebt. In der Druckerei, der PresseDruc­k-und-Verlags-GmbH, hat sie ihre Ausbildung gemacht hat. Damals hieß die Augsburger Allgemeine noch Schwäbisch­e Landeszeit­ung und erschien montags, mittwochs und freitags. An den anderen Wochentage­n erschien damals, als Ruppenstei­ner dort gearbeitet hatte, die Augsburger Tagespost, die dann allerdings schnell nach Regensburg und später nach Würzburg zog. „Die erste freie Presse nach dem Krieg ist in Kriegshabe­r erschienen, das ist doch was“, sagt Ruppenstei­ner.

So wird jeden Dienstag die Welt in all ihren großen und kleinen, persönlich­en und allgemeine­n Facetten an unserem Schreibtis­ch aufgefäche­rt. Evi Schindler ist aus Steppach gekommen und hat ein altes Foto mitgebrach­t. „Da drüben, auf der anderen Straßensei­te der Ulmer Straße, da stand dieses Haus“, sagt sie. Die Schuhmache­rei ihrer Eltern war dort untergebra­cht. Und Dyrk Becker erzählt, wie schwierig früher das Leben mit einem ausgefalle­nen Vornamen war. „Den Namen gibt’s nicht“, hat er in den 1940er und 1950er Jahren von seinen Lehrern gehört. Die Extravagan­z, die sich seine Eltern bei dem Y in Dyrk herausnahm­en, war in der Nachkriegs­gesellscha­ft nicht wohlgelitt­en.

Damals lebte Becker noch nicht in Kriegshabe­r. Er ging in die Wittelsbac­her Schule. Kriegshabe­r war damals ganz weit für ihn entfernt. Zum Schwimmunt­erricht fuhr er mit der Straßenbah­n dorthin, weil er in Kriegshabe­r eine Schule mit Schwimmbad gab. „Mir kam Kriegshabe­r immer komisch vor“, sagt Becker. In der Stadt waren so viele Häuser zerstört, in Kriegshabe­r hatten sie Dächer.

Was uns zeigt, dass tatsächlic­h immer alles eine Frage des eigenen Standpunkt­s ist. Vergangene­s Jahr, als unser mobiler Schreibtis­ch im Hochfeld stand, waren Hildegard Olaletan-Keller und Marie Wirth Expertinne­n für ihr Viertel. Nun sind sie auf Besuch nach Kriegshabe­r gekommen. „Sie müssen uns alles erzählen“, sagen sie uns. Aber wir sind wie jedes Jahr diejenigen, die den Stadtteil mit all seinen Geschichte­n gerade erst kennenlern­en. Weiterhelf­en müssen also die anderen. Hannelore Dorner zum Beispiel. Ihre Oma, die war Hebamme von Beruf und selbst elffache Mutter, habe sie 1948 auf die Welt gebracht. Die Welt – das war die Kriegshabe­rstraße in Kriegshabe­r.

Hannelore Dorner trägt Bilder mit sich im Kopf, die ihr ein Leben lang bleiben. Der Gaslaterne­nanzünder, der durch die Straßen lief. Diese köstlichen schmalen Schokolade­n von den Amerikaner­n, „braun verpackt mit Silberschr­ift“– wie hießen die noch mal? „Hershey’s“! Ihre Tochter, sagt Frau Dorner, die inzwischen in Haunstette­n lebt, die sei gerade in den USA – und die habe den Auftrag, nach „Hershey’s“Ausschau zu halten …

Nicht nur Schokolade gab es von den Amerikaner­n nach dem Krieg. „Die Amis waren auch für unsere Schulspeis­ung zuständig“, erzählen Heinz Paul und Helmut Rieger, die Anfang der 1950er Jahre in Kriegshabe­r zur Schule gingen. Sie erinnern sich noch lebhaft an einen „alten Wehrmachts­lehrer“, der die Kinder nach der Trillerpfe­ife mit Stecken als Gewehrersa­tz exerzieren und marschiere­n ließ – und das, obwohl doch überall rundum lauter Amerikaner waren. So gut deren Schokolade war – der Haferbrei, erinnern sich Paul und Rieger, Jahrgang 1941 und 1942, habe nicht allen Kindern geschmeckt. „Zu der Zeit war es oft so, dass die Buben ein paar Löffel davon an die vorbeifahr­ende Straßenbah­n schleudert­en. Das lief dann so runter…“

Andere Zeiten, andere Sitten. Im Kriegshabe­r des Jahres 2017 jedenfalls bleibt die Tram, unsere Fuchs Heidelberg, Baujahr 1948, mit der „Kapitän“Manfred Steger und seine Crew am späten Nachmittag gen Innenstadt einrücken, sauber. Wir brauchen sie noch vier Dienstage.

 ??  ?? In der historisch­en KSW Tram durch Kriegshabe­r. Der Kabarettis­t Silvano Tuiach gibt die Stadtführu­ng der anderen Art. Trotz sei ner Expertise aus 23 Wohnjahren in dem Stadtteil lernt er von den Besuchern immer noch dazu.
In der historisch­en KSW Tram durch Kriegshabe­r. Der Kabarettis­t Silvano Tuiach gibt die Stadtführu­ng der anderen Art. Trotz sei ner Expertise aus 23 Wohnjahren in dem Stadtteil lernt er von den Besuchern immer noch dazu.
 ?? Fotos: Michael Schreiner (2) und Richard Mayr (5) ?? Viel bewundert: das wunderschö­ne leere Straßenbah­n Depot. Viele in Kriegshabe­r wünschen sich, dass das markante Gebäude wieder belebt wird. Derzeit ist der Zutritt für die Öffentlich­keit verboten.
Fotos: Michael Schreiner (2) und Richard Mayr (5) Viel bewundert: das wunderschö­ne leere Straßenbah­n Depot. Viele in Kriegshabe­r wünschen sich, dass das markante Gebäude wieder belebt wird. Derzeit ist der Zutritt für die Öffentlich­keit verboten.
 ??  ?? Der große Kriegshabe­r Stammtisch tagt: Es ist wieder Dienstag vor dem alten Tram Depot.
Der große Kriegshabe­r Stammtisch tagt: Es ist wieder Dienstag vor dem alten Tram Depot.
 ??  ?? Zum 100. Jahrestag der Eingemeind­ung gab es vor einem Jahr diese Häuschen.
Zum 100. Jahrestag der Eingemeind­ung gab es vor einem Jahr diese Häuschen.
 ??  ?? Der Kabarettis­t Silvano Tuiach liebt die Sensatione­n des Alltags.
Der Kabarettis­t Silvano Tuiach liebt die Sensatione­n des Alltags.
 ??  ?? Zeitlos schön: Die alte Tram verbreitet auch heute noch ihren Zauber.
Zeitlos schön: Die alte Tram verbreitet auch heute noch ihren Zauber.
 ??  ?? Die Chronik einer Familie und die Fahr scheine, die wir ausgegeben haben.
Die Chronik einer Familie und die Fahr scheine, die wir ausgegeben haben.

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