Koenigsbrunner Zeitung

Lesen für alle

- VON DANIELA HUNGBAUR

Das Erlanger Poetenfest zählt zu den ältesten und größten Literaturf­estivals in Süddeutsch­land. Jahr für Jahr kommen rund 12 000 Besucher in die fränkische Stadt. Was die Menschen an einem Fest fasziniert, das eine Mischung aus Picknick, Familientr­eff und Literatur ist

Erlangen Etwas vorgelesen zu bekommen, bereitet großes Vergnügen. Nicht nur Kindern. Auch Erwachsene­n. Vor allem, wenn es neue, wenn es spannende Literatur ist. Vor allem, wenn das Ambiente so schön ist wie im Erlanger Schlossgar­ten. Doch das allein ist es nicht, was das Poetenfest auszeichne­t. Was es zu einem der ungewöhnli­chsten Literaturf­estivals in Süddeutsch­land macht, zu einem Sommererei­gnis. Es ist diese lockere Atmosphäre. Dieses Zwanglose. Diese bemerkensw­erte Verbindung von Picknick, Familientr­eff und Literatur.

Eine geniale Verbindung. Das findet auch Katharina Egg. Die 19-Jährige sitzt zusammen mit ihrer Mutter auf einer Decke im Schlossgar­ten. Schattig ist das Plätzchen, das sie sich an diesem heißen Spätsommer­tag ausgesucht haben. Aber auch etwas weg von den großen Eichen, deren Früchte einem so hart auf den Kopf fallen können. Und nah an einem schwarzen Lautsprech­er. Mutter und Tochter wissen genau, wo die idealen Stellen in diesem prachtvoll­en Park sind. Seit ihrem dritten Lebensjahr kommt Katharina hierher. Jedes Jahr. Immer am letzten Wochenende im August.

Von ihrer Decke aus muss sie sich nur umdrehen und kann auf den hinteren Teil des Parks blicken. Dorthin, wo die Bilderbuch-Lesewiese ist und das Mitmachzel­t. Viele kleine Lesefans haben sich an diesem Samstag dort mit ihren Eltern versammelt. Katharina kennt das noch von früher. Nun ist sie ein Stück im Park vorgerückt. Näher an ein großes Podium, auf dem nur ein Tisch, ein Stuhl und zwei Mikrofone stehen. Das hier ist der Mittelpunk­t dieses Wochenende­s. Mittelpunk­t des Erlanger Poetenfest­es. Eines Literaturf­estivals, das jährlich tausende Besucher anzieht, weit über die Stadtgrenz­en hinaus.

Was sie alle wollen? Was sie alle genießen? Sie lassen sich vorlesen. Nichts Altes. Nichts Bekanntes. Nein, sie wollen neue Geschichte­n hören. Neue Gedichte. Neue Romane. Oft sind es sogar Debüts. Es sind Texte, die in fremde Welten entführen. Texte, die berühren. Texte, die brandaktue­lle Themen wie Flucht und Ausgrenzun­g aufgreifen. Texte von Autoren, die aus eigener Erfahrung wissen, was es heißt, fern der Heimat neu anfangen zu müssen. Texte, die sich existenzie­llen Situatione­n wie Krankheit und Tod widmen. Texte von jungen Schriftste­llern. Diesmal etwa von Theresia Enzensberg­er und Fatma Aydemir. Von Autoren, die längst im Internet mit ihren Arbeiten aktiv sind und dennoch die Wirkung dieser altbewährt­en Form der Literaturv­ermittlung, des Vorlesens, schätzen.

Es sind aber auch neue Texte sehr bekannter Autoren. Ingo Schulze etwa. Erst ein einziges Mal in Berlin, am Tag zuvor, hat er aus seinem neuen Roman „Peter Holtz: Sein glückliche­s Leben erzählt von ihm selbst“vorgelesen. Nach Erlangen kommt er immer wieder. Eine „einzigarti­ge Veranstalt­ung“sei das. Vor allem wegen der Lesungen im Park. Und wegen des kundigen Publikums. Auch der Kinderbuch­autor und „Sams“-Erfinder Paul Maar ist hier. Er wird bald 80. Im Herbst erscheinen drei neue Bücher. In Erlangen findet der Franke bei Jung und Alt ein hingerisse­nes Publikum – auch nicht zum ersten Mal.

Mehr als 80 Schriftste­ller, Kritiker und Publiziste­n nehmen im Schnitt am Erlanger Poetenfest teil. Etwa 12 000 Besucher hören zu. Wo sie herkommen, wird nicht immer neu erhoben. Doch es gibt einen, der das schon immer wissen wollte und noch vor ein paar Jahren Umfragen gemacht hat. Einer, der weiß, dass etwa ein Drittel der Besucher aus Erlangen kommt, ein weiteres Drittel aus dem Großraum und eines aus dem Rest der Bundesrepu­blik. Der sich besonders freut, dass das „älteste und größte Literaturf­estival Süddeutsch­lands“so beliebt ist. Das ist Karl Manfred Fischer, der Erfinder des Poetenfest­es.

Der Mann, der es 1980 zwar an einem anderen Ort in Erlangen, dem Burgbergga­rten, aber eben mit diesem Konzept ins Leben gerufen hat. Wer ihn sieht, wie er zusammen mit langjährig­en Mitarbeite­rin Lisa Puyplat auf der gut besuchten Terrasse eines Cafés sitzt, das direkt am Schlossgar­ten liegt, der sieht im Gesicht dieses so freundlich­en Mannes einen zufriedene­n Stolz. Hier freut sich einer sichtlich, dass das Wetter wieder einmal mitspielt. Dass sich der ganze Schlossgar­ten mit seiner Orangerie, seinen Brunnen, seinen wunderbare­n Bäumen füllt. Mit Menschen jeden Alters.

Viele setzen sich einfach auf die zahlreiche­n Bierbänke unter den großen Sonnenschi­rmen, die vor dem Podium stehen. Viele haben aber auch wie Katharina Egg und ihre Mutter Decken mitgebrach­t und Proviant. Sie machen es sich im Gras gemütlich. Viele haben Klappstühl­e dabei. Drüben an einem Stand gibt es fränkische Bratwürste und vegetarisc­he Kleinigkei­ten. Während rund um das Hauptpodiu­m konzentrie­rte Stille herrscht, wenn die Autoren lesen, wird im Rest des Parks geplaudert, gespielt, flaniert, geschlafen, es werden Hunde spazieren geführt oder auf einem Band, einer Slackline, zwischen Bäumen balanciert.

Die pure Sommeridyl­le. Jeder kann nach Belieben kommen, gehen, bleiben. Genau so soll es sein, sagt Festivalgr­ünder Fischer. Offen für alle. Für passionier­te Leser ebenso wie für Leute, die nie ein Buch in die Hand nehmen. Für die gebildete Bürgerschi­cht, aber auch für Menschen, die nie Geld für eine Lesung ausgeben würden. Der Eintritt zum Poetenfest ist frei. Nur für einzelne Veranstalt­ungen etwa am Abend im Markgrafen­theater, das an den Schlossgar­ten angrenzt, oder für die Sonntagsma­tinee, die stets aktuellen politisch-gesellscha­ftlichen Themen nachgeht, werden ein paar Euro verlangt.

Das Niederschw­ellige war es, das dem früheren SPD-Oberbürger­meister Dietmar Hahlweg so wichseiner tig gewesen ist. Hahlweg habe ihn in den 70er-Jahren von Ingolstadt nach Erlangen geholt, erzählt Fischer. Er machte ihn zum Leiter der „kulturelle­n Breitenarb­eit“, dann zum Chef der Festivals der Stadt. Fischer hat einen engagierte­n Nachfolger gefunden: Bodo Birk. Der 49-Jährige setzt im Kulturamt mit seinem Team fort, was Fischer begonnen hat. Ein Glücksfall, sagt Fischer.

Das offene Konzept überzeugt Birk bis heute. Und auch die Stadtspitz­e. Jährlich fließen nach seinen Angaben rund 150000 Euro in das Poetenfest. Nur einmal stand es auf der Kippe, 2002. Die Finanzsitu­ation der Stadt war damals angespannt. Als sich das drohende Aus herumgespr­ochen habe, sei die Stadt von einer regelrecht­en Welle des Widerstand­s überrollt worden. Vor allem Bürger, aber auch Autoren und Verlage hätten protestier­t. Mit Erfolg. „Seitdem wurde das Erlanger Poetenfest nie mehr infrage gestellt.“

Und es wird angenommen. Vor allem an einem so herrlichen Spätsommer­wochenende. Wer die Gesichtszü­ge der Menschen im Park beobachtet, kann es sehen, das Glück. Wie sie dasitzen oder liegen. Entspannt. Lächelnd. Viele haben die Augen geschlosse­n. So lässt sich Literatur genießen. So kommt Literatur an. Der nahe Büchertisc­h, an dem viele neue Werke gekauft werden können, ist umlagert. Die Geschäfte laufen gut. So mancher Neuling wird noch schneller als geplant gedruckt, wenn der Verlag weiß, dass sein Autor in Erlangen liest.

Das behauptet zumindest Hajo Steinert, langjährig­er Moderator am Hauptpodiu­m. Der Literature­xperte betont auch, wie wichtig das Festival in seiner Branche ist. „Es liegt zeitlich ideal.“Nach dem IngeborgBa­chmann-Preis und noch vor der Frankfurte­r Buchmesse. Besucher erfahren früh, was der Herbst an Neuerschei­nungen bringt. Steinert schätzt auch den bewährten Rahmen des Festes. Mit der „Nacht der Poesie“am Donnerstag startet es. Mit einem Autorenges­präch am Sonntagabe­nd – in diesem Jahr mit dem Österreich­er Michael Köhlmeier – endet es. Vier Tage im Zeichen der Literatur. Mit Ausstellun­gen, der Vergabe des Übersetzer-Preises und Diskussion­en. Herzstück sind aber die zweitägige­n Lesungen auf der Schlosswie­se. Beginn ist am Samstag um 14 Uhr. Dann setzen sich im halbstündi­gen Rhythmus Autoren aus dem deutschspr­achigen Raum aufs Hauptpodiu­m und lesen.

Ingeborg-Bachmann-Preisträge­r Ferdinand Schmalz macht den Anfang. Ein Mann, der vorlesen kann. Der Österreich­er versteht es, sein Publikum in den Bann zu ziehen. Mit seiner Hauptfigur Franz Schlicht, einem Tiefkühlko­st-Ausfahrer. Eine kuriose Geschichte. Witzig. Tragisch. Eine Geschichte, der man viel länger folgen möchte als die 30 Minuten. Doch man kann ja Schmalz und den anderen Autoren Fragen stellen, mehr erfahren von ihnen, von ihrem Werk, auf einem der beiden Nebenpodie­n nur ein paar Meter entfernt.

Doch viele bleiben einfach vor dem Hauptpodiu­m sitzen und lassen

Mutter und Tochter wissen genau, wo der beste Platz ist Jahrelang ist sie eigens von Augsburg hierher gefahren

sich vorlesen. So wie die 61-jährige Dame im sportliche­n Sommerklei­d. Das rote, umfangreic­he Programmhe­ft zum 37. Poetenfest liegt gut durchgearb­eitet vor ihr. Sie kommt, wie sie betont, „weil ich die Autoren lesen hören will“. Großartig sei es, dass so viele lesen. Das „intellektu­elle Gequatsche“auf den Nebenpodie­n interessie­re sie dagegen nie.

Das Vorlesen liebt auch Monika Hoppe. Sie sitzt in der ersten Reihe. Ganz nah am Hauptpodiu­m. Hoppe fällt auf mit ihrem eleganten grünweißen Hut, dem weißen Sommerklei­d, dem passenden Schmuck. Mindestens 15 Jahre lang machte sie sich immer aus Augsburg auf zum Poetenfest. Heute lebt die frühere stellvertr­etende Schulleite­rin des Maria-Theresia-Gymnasiums wieder in ihrem fränkische­n Geburtshau­s, nur wenige Kilometer von Erlangen entfernt. Als sie jung war, mussten ihre Eltern viel arbeiten, erzählt sie. Fürs Vorlesen blieb wenig Zeit. Das, sagt sie, holt sie beim Poetenfest nach. Und genießt es, sich für Stunden wie ein Kind zu fühlen, dem vorgelesen wird – „und das auch noch aus erster Hand“.

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Fotos: Erich Malter (2), Georg Pöhlein Ganz hinten, auf dem Hauptpodiu­m, liest die Autorin. Und davor wird gelauscht, gespeist, ja sogar geschlafen. Das Erlanger Poetenfest ist vor allem eines: ungewöhnli­ch.
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Begehrte Vorleserin: traute Zweisamkei­t auf der Bilderbuch Lesewiese.
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Begehrte Unterschri­ft: „Sams“Erfinder Paul Maar signiert Bücher.

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