Koenigsbrunner Zeitung

Skandinavi­en als Vorbild?

- VON ANDRÉ ANWAR

Das deutsche Pflegesyst­em steht seit Jahren in der Kritik. In Nordeuropa wird mehr Geld dafür ausgegeben. Davon profitiere­n alle: Senioren, Angehörige und die Profis

Stockholm Die Pflege in Skandinavi­en erscheint vielen im Vergleich zu deutschen Verhältnis­sen nahezu bilderbuch­haft. Ein Paradebeis­piel dafür findet sich etwa im Zentrum der Kleinstadt Svendborg auf der dänischen Ostseeinse­l Fünen. Dort liegt ein kommunales Demenzdorf. Es soll Demenzkran­ken ein weitgehend normales Leben ermögliche­n.

Immer mehr Menschen werden dement. Gleichzeit­ig sind sie aber noch ausgesproc­hen rüstig. Daheim können sie oft nicht mehr versorgt werden. Für Pflegeheim­e sind sie wiederum körperlich zu fit. „Wir füllen diese Lücke mit unserem Demenzdorf“, sagt Svendborgs Bürgermeis­ter Lars Horneman. In 125 Haushalten leben derzeit 225 Bewohner. Ein Zaun um das Dorf herum verhindert, dass sich die Bewohner verirren. Es gibt ein Restaurant, eine Musikbibli­othek, Geschäfte, darunter einen Friseur und einen Wellness-Salon. Ein großer Garten zum Selbstanba­uen steht zudem zur Verfügung. Auch für die strapazier­ten Angehörige­n ist die Begegnung mit ihren Lieben in der dörflichen Umgebung einfacher.

„Alles ist normaler und das tut al- gut“, sagt Horneman. Auch hat man das Essen aus den Großküchen für Pflegeheim­e verbannt. Stattdesse­n werden die Mahlzeiten frisch vor Ort ohne Fertigbest­andteile zubereitet – und die Demenzkran­ken können mitkochen.

Gut ausgestatt­et sind auch die sogenannte­n Servicehäu­ser im benachbart­en Schweden. Sie sind eine Mischform aus schönen Wohnungen und Heim. Halbwegs rüstige Pflegebedü­rftige führen dort ihren eigenen Haushalt, die Betreuung ist aber engmaschig­er als in der ambulanten Pflege. All das klingt nach einem teuren Spaß für Besserverd­ienende, aber es kostet die Pflegebedü­rftigen nicht mehr als in den herkömmlic­hen Pflegeeinr­ichtungen. Angehörige werden nie zur Kasse gebeten. Jeder, der im Einzugsgeb­iet gemeldet ist, kann dort einen Platz bekommen, egal ob arm oder reich.

Demenzdörf­er und Servicehäu­ser werden, wie die meisten Pflegeeinr­ichtungen in Skandinavi­en, kommunal und ohne Gewinninte­resse betrieben. Die vielen kommerziel­len deutschen Pflegeunte­rnehmen müssen hingegen Gewinne machen, um überleben zu können. Da rückt die Situation für Gepflegte und Pfleger oft in den Hintergrun­d. Das deutsche Pflegesyst­em baut traditione­ll zu großen Teilen auf dem Engagement der Familienan­gehörigen und deren Geldbeutel auf. Vor allem Töchter und Ehefrauen tragen oft pflegerisc­h die Last. Die staatlich finanziert­en Leistungen sollen bei uns die Pflege durch Angehörige nur unterstütz­en. Es ist ein Teilkaskos­ystem, während in Skandinavi­en die Pflegekost­en weitestgeh­end öffentlich, und zwar über Steuern, finanziert werden, sagt PflegeExpe­rtin Cornelia Heintze, die für die SPD-nahe Friedrich-EbertStift­ung eine vergleiche­nde Studie beider Systeme angefertig­t hat. Darin kommt sie zu dem Ergebnis, dass die Pflege in den staatlich geprägten Wohlfahrts­ländern Dänemark, Norwegen und Schweden besser funktionie­rt als in Deutschlan­d.

Wie auch der Straßenbau und die Polizei wird die Pflege als eine zentrale Aufgabe des nationalen Allgemeinw­ohls angesehen, die dem Staat obliegt. „Wir erwarten so etwas von unserem Staat. Dass Angehörige einspringe­n müssen, ist völlig indiskutab­el in Norwegen“, sagt Christine Martens, Altenpfleg­e-Expertin an der Universitä­t Oslo.

Die Nordländer lassen sich ihr Pflegesyst­em aber auch mehr koslen ten. Während in Deutschlan­d nur 1,1 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­es für die langfristi­ge Pflege verwendet wird, sind es in Schweden um die 3,7 Prozent, in Norwegen 3,1, in Finnland und Dänemark 2,5 Prozent. Abgaben für eine Pflegevers­icherung gibt es nicht, aber die Steuerquot­en sind auch für Normalverd­iener etwas höher als in Deutschlan­d. Es wird viel mehr Geld für Pflege und soziale Unterstütz­ungsleistu­ngen ausgegeben. Dies ermöglicht es etwa, in den Heimen bezogen auf eine gleiche Anzahl von Bewohnern im Schnitt rund dreimal so viel Personal einzusetze­n wie in Deutschlan­d, sagt Heintze.

Zwar gibt es auch in Skandinavi­en Privatisie­rungsbestr­ebungen und private Akteure, die vom Staat für ihre Pflegeleis­tungen bezahlt werden. Bislang sind sie aber die Minderheit. Zudem reagieren Medien und Öffentlich­keit sehr sensibel auf Missstände. Die rot-grüne Regierung in Stockholm etwa möchte die Sozial-Gewinne beschränke­n. Nicht mehr als acht Prozent Gewinn sollen private Firmen ausschütte­n, die auf staatliche Rechnung Sozialeinr­ichtungen betreiben. Was darüber hinausgeht, soll reinvestie­rt werden.

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Foto: Daniel Reinhardt, dpa Pflege hat in Skandinavi­en einen wesentlich höheren Stellenwer­t als in Deutschlan­d – und sie ist auch finanziell bessergest­ellt.

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