„Berge sind eine Übung in Geduld“
Der Augsburger Künstler Felix Weinold hat fünf Jahre lang immer wieder einen Teil des Fernwanderwegs „Traversata delle Alpi“gemacht. Er führte ihn über Höhen und Tiefen – auch im übertragenen Sinn
Augsburg Böhmen liegt am Meer, das wissen wir aus Ingeborg Bachmanns gleichnamigem Gedicht. Auch der Nufenenpass liegt, so gesehen, am Meer. Man muss nur die etwa 1000 Kilometer der Grande Traversata delle Alpi (GTA) gehen, schon steht man bei Ventimiglia im Salzwasser. Unterwegs sind allerdings etwa 65000 Höhenmeter aufund wieder abzusteigen.
In Büchern wie Eichendorffs „Taugenichts“oder Goethes Wilhelm Meister gefiel mir seit jeher, wie selbstverständlich früher weite Strecken zu Fuß zurückgelegt wurden; da ging einer mal eben von Deutschland nach Rom, oder gar, wie Johann Gottfried Seume in seinem „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“, 7000 Kilometer weit von Grimma in Sachsen nach Sizilien und zurück. Ein Freund empfahl mir die GTA, einen wenig begangenen Weg über den gesamten westlichen Alpenbogen, fast vom Lago Maggiore bis zum Meer. Im August 2012 packte ich meinen Rucksack.
Eine Fernwanderung ist eine Selbstbefragung: Was brauche ich wirklich? Alles, worauf ich nicht verzichten will, muss ich täglich über mindestens einen Pass tragen. Ich ging fünf Jahre lang, jeweils etwa 200 Kilometer, und aus 13 Kilogramm Gepäck (inclusive Wasser) im ersten Jahr wurden acht im letzten. Die elementaren Notwendigkeiten (Hitze, Kälte, Regen, Hunger, Durst) diktieren die Liste der unentbehrlichen Gegenstände.
Berge sind eine Übung in Geduld: Die Idee, dass man morgens am Horizont einen Gipfel sieht, den man vielleicht erst in einer Woche erreichen wird, ist anachronistisch, da die Welt klein geworden ist durch die Geschwindigkeiten, mit denen man zu reisen gewohnt ist. Der Monte Rosa beispielsweise begleitet den GTA-Wanderer hartnäckig die ersten beiden Wochen wie ein freundlicher Riese.
Das Gehen gerät, je länger man unterwegs ist, immer mehr zu einer zen-artigen Übung: Einer radikalen Konzentration und Vereinfachung; das Multitasking des Alltags weicht dem bloßen Gehen und Atmen. Die Sinne werden schärfer, man nimmt die grandiose Landschaft in extremer Intensität wahr. Der Weg führt vorbei an jahrhundertealten verlassenen Steindörfern, verbunden nur durch schmale Maultierpfade. Wie würden die Bewohner von einst über die komfortable Welt von heute staunen, da wir uns wundern, wie man hier leben konnte, auch im Winter, fernab von Versorgung und Hilfe in Notfällen.
Die Werbung macht uns weiß, man müsse jeden kleinen Hunger sofort mit einem zuckrigen Riegel erschlagen; wer fernwandert, lernt den echten Hunger wieder kennen, der richtiges Essen einfordert. Und die wunderbare Piemonteser Küche lässt keine Wünsche offen: In einfachsten Alberghi, also Unterkünften, kommt oft ein viergängiges Menü auf den Tisch, das eines Sterns würdig wäre, ebenso der Wein. Dass die gleichen Wirte am nächsten Morgen zu lausigem Kaffee Zwieback und Marmelade aus versiegelten Plastiknäpfchen servieren, bleibt eines der großen Rätsel der italienischen Kultur.
Die Wanderer, die ich unterwegs kennenlernte, waren durchweg angenehme und teilweise interessante Leute; so zum Beispiel der Berliner mit den wilden Tattoos, der sich als sensibler Lebenskünstler erwies. Er schaltet seinen Ebay-Shop für Vinylplatten jedes Jahr drei Monate offline, um sich auf Wanderschaft zu begeben.
Thallassa, Thallassa: Als ich dieses Jahr nach 1000 Kilometern endlich in Ventimiglia das Meer erreiche, ist der Strand voll, es ist heiß, und an der Uferstraße staut sich der Verkehr. Das Glück des Meeres, weil anstrengungslos zu erlangen, zieht viele an. Im nächsten Jahr: zurück in die Berge! „Ich sage Dir: Steh auf und geh! Es ist Dir kein Knochen gebrochen.“(Ingeborg Bachmann, „Das dreißigste Jahr“).
ODer Autor Der Augsburger Künstler Felix Weinold ist Jahrgang 1960. Er hat an der Akademie der Bildenden Künste in München studiert und ist künstlerisch sowohl in der Malerei, der Zeichnung als auch der Fotografie zuhause. Er hat un ter anderem die Fassade der Tierklinik Un ger in Augsburg sowie eine Kunstinstal lation für Blinde in der Stadtbücherei Augsburg gestaltet. Das Casino der Fir ma Müller Milch hat Weinold mit einer di gitalen Fotoarbeit gestaltet. Weinold ist begeisterter Wanderer.
OUnsere Serie Im Rahmen unserer Serie „Erlebnisssammler“stellen wir Menschen vor, die besondere Urlaubs ziele sammeln: Einmal alle Achttausen der der Welt besteigen, einmal alle Alpen pässe mit dem Rad überqueren, einmal alle Kulturhauptstädte der Welt gesehen haben, und, und, und. „Sammeln“auch Sie solche Erlebnisse? Dann melden Sie sich unter: regiodesk@augsburger allgemeine.de.