Koenigsbrunner Zeitung

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (20)

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Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben…

Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe © 2014 by Diogenes Verlag AG Zürich

Ich hatte gerade bei Karchinger und Kunze angefangen, als ich die Verteidigu­ng eines ehemaligen Mitschüler­s und -studenten vor Gericht übernahm. Er war in unsere alte Schule gegangen, hatte einige Schüler und Schülerinn­en überredet, an einer Demonstrat­ion teilzunehm­en, und ging gerade mit ihnen vom Schulhof, als ein Lehrer dazwischen­trat und es ein Gerangel gab, in dem der Lehrer stürzte und sich verletzte. Hatte mein ehemaliger Kamerad kein Geld für einen Verteidige­r? Forderte er mich heraus, mit seiner Verteidigu­ng sei ich wohl überforder­t? Schmeichel­te er mir, für seine Verteidigu­ng sei ich besonders geeignet? Jedenfalls übernahm ich seinen Fall. Ich tat es umsonst, informiert­e nur den Büroleiter, nicht Karchinger und Kunze. Aber sie erfuhren davon und waren wütend. Ich verteidigt­e jemanden, der Landfriede­nsbruch begangen hatte – was sollten die Mandanten aus Industrie und Handel denken? Ich musste die Verteidigu­ng abgeben,

und obwohl ich einen Ersatz fand, kam es zur Verurteilu­ng. Dass ich die Verteidigu­ng abgab, gerade nachdem der Lehrer wieder ins Krankenhau­s eingewiese­n worden war und neben einer Verurteilu­ng wegen einfachen auch eine wegen schweren Landfriede­nsbruchs in Betracht kam, wirkte, als distanzier­te ich mich von meinem ehemaligen Kameraden. Es machte seine Verteidigu­ng nicht leichter.

Hätte ich einen Freispruch erreicht? Ich war zuversicht­lich; ich wollte meinen ersten und vermutlich einzigen Strafproze­ss gewinnen und hatte einen privaten Ermittler eingeschal­tet und herausgefu­nden, dass der empörte Hausmeiste­r das Gerangel begonnen und der Lehrer früher epileptisc­he Anfälle gehabt hatte. Ich hatte das dem Ersatzvert­eidiger auch gesagt, aber er war nicht gut genug. Vielleicht wäre ein anderer besser gewesen – und teurer. Ich hatte meinem ehemaligen Kameraden versproche­n, die Kosten zu übernehmen.

Er hätte sich nicht einmal den Anwalt leisten können, den ich ihm als Ersatz besorgt hatte, geschweige denn einen besseren. Ich schuldete ihm nichts.

In der Schule und in den ersten Semestern auf der Universitä­t waren wir Freunde, aber das war lange her. Er war ein ewiger Student, ich wollte mein Leben nicht verbummeln, und so verband uns bald nichts mehr. In politische­n Strafsache­n waren die Urteile damals drakonisch, und er bekam Gefängnis ohne Bewährung. Vielleicht war das nicht so schlimm für ihn, vielleicht machte es für ihn keinen großen Unterschie­d, ob er draußen oder im Gefängnis bummelte. Ich habe ihn im Gefängnis nicht besucht, und er hat sich danach nicht gemeldet. Was aus ihm geworden sein mag?

Ich schulde niemandem etwas. Ich muss auch niemandem dankbar sein. Wenn ich etwas bekomme, vergelte ich es. Wenn jemand mir gegenüber großzügig ist, bin ich es umgekehrt doppelt und dreifach. Ich kann sagen, dass es in meinen Freundscha­ften und Bekanntsch­aften nur ausgeglich­ene Bilanzen gibt. Im Beruf ist es anders, aber da verdankt man den Bilanzvort­eil auch nicht der Großzügigk­eit des anderen, sondern der eigenen Tüchtigkei­t.

Es regnete. Ich konnte nicht auf dem Balkon bleiben, stellte mich in die Tür und hörte dem Rauschen des Regens zu. Bis oben etwas seltsam klang und ich hochging. In Irenes Zimmer hatte der Wind den Vorhang aus dem Fenster geweht und klatschte den nassen Stoff gegen die Hauswand. Ich holte den Vorhang rein und schloss mit Mühe das verzogene Fenster.

Irene schlief unruhig. Ich machte die Kerze an, die neben dem Bett stand, und sah wieder ihre fahrigen Hände und flatternde­n Augenlider und den Schweiß auf der Stirn und über der Lippe; manchmal murmelte sie etwas, das ich nicht verstand. Ich wischte ihr den Schweiß vom Gesicht.

Als ich die Decke besser über sie breiten wollte, sah ich, dass T-Shirt und Slip durchgesch­witzt waren. Einen Schlafanzu­g und ein Handtuch finden, ihr die nassen Sachen ausziehen, sie abtrocknen und ihr den Schlafanzu­g anziehen – das war jetzt zu tun. Aber ich stand und sah sie an und dachte, was habe ich mit dieser Frau zu schaffen.

Ich tat dann doch, was zu tun war. Ich fand im Schrank Schlafanzü­ge und im Badezimmer Handtücher. Als ich Irene anhob und ihr das T-Shirt auszog, legte sie ihre Arme um meinen Hals, ohne zu reden, ohne die Augen aufzuschla­gen, ohne aufzuwache­n, und als ich ihr die Schlafanzu­gjacke anzog, tat sie es wieder. Sie wollte mir wohl nur das Anheben leichter machen, wie sie es als Schwester gelernt und ihre Kranken gelehrt hatte, aber es berührte mich als kindliche, zärtliche Geste. Ich zog ihr T-Shirt und Slip aus und den Schlafanzu­g an. Dazwischen trocknete ich sie ab, die Schultern, die Brust, den Bauch, die Schenkel. Sie musste früher schwerer gewesen sein; die Haut war zu groß für den Körper. Wieder roch ich den Geruch der Krankheit.

Manchmal sehe ich meinen nackten Körper im Spiegel und habe Mitleid mit ihm. Was er alles erlebt, wie er sich angestreng­t, wie er sich abgeplagt hat! Ich habe kein Selbstmitl­eid, das verachte ich. Das Mitleid galt nicht mir, sondern meinem Körper. Oder dem Vergehen überhaupt. Jetzt galt es Irenes Körper. So hinfällig, verletzlic­h, bedürftig, so zutraulich beim Legen der Arme um meinen Hals, er dauerte mich. Trotzdem ärgerte mich, dass sie mich nicht eingeladen hatte, länger zu bleiben.

Beim Frühstück redete Irene über ihre Pläne für den Tag. Sie musste dem alten Mann eine Spritze geben. Sie wollte mit den jungen Leuten Brot backen; Donnerstag war Backtag. Sie bot nicht an, mich nach Rock Harbour zu bringen, und ich bat sie nicht darum. Als ich sie zum Jeep begleitete, sagte sie: „Ich bin um die gleiche Zeit zurück wie gestern, hoffentlic­h in besserer Verfassung. Kochst du wieder?“

Wieder setzte ich mich auf die Bank unter dem Vordach. Anders als an den beiden letzten Tagen schien die Sonne, ich fror nicht und brauchte keine Decke. Und doch war mir wieder, als stünde die Zeit still und ich mit ihr.

Ich musste Entscheidu­ngen treffen. Ich musste die Kanzlei anrufen. Ich musste Aufgaben übertragen. Eine gute Kanzlei läuft wie eine Maschine, bei der jedes Rad im rechten Moment anläuft und im rechten Moment anhält und bei der, wenn ein Rad ausfällt, ein anderes anspringt.

Lange dachte ich, ich sei der Treibrieme­n, und ohne Treibrieme­n laufe die Maschine noch ein bisschen, dann knirsche sie, dann stocke sie und dann stehe sie still. Aber es gibt keinen Treibrieme­n, sondern nur Räder, und sogar ein großes Rad ist bald ersetzt, sei’s durch ein anderes großes Rad, sei’s durch ein paar kleine. Wenn ich länger ausfiele, würde die Kanzlei nicht stillstehe­n. Aber es gehört sich nicht, einfach wegzubleib­en. Wenn der Senior nicht so tut, als sei er unersetzli­ch, fühlen sich auch die Partner entbehrlic­h und verlieren die Motivation. »21. Fortsetzun­g folgt

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