Koenigsbrunner Zeitung

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (29)

Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe © 2014 by Diogenes Verlag AG

-

Warum verschenke­n Sie sie nicht an die Museen?“Irene wollte etwas sagen, kam nicht zu Wort, und so unterbrach ich den Streit der beiden. „Können…“

„Unser Anwalt…“Gundlach winkte ab. „Er“, er zeigte mit dem Kopf zu Schwind, „hat immerhin ein OEuvre zustande gebracht und ein Vermögen zusammenge­malt, ich habe gemacht, was ich gemacht habe, aber Sie? Teure Kanzlei, ich weiß, große Fälle, aber immer für andere die Drecksarbe­it erledigen – Sie sind ein Lakai. Zuerst waren Sie seiner“, wieder die Kopfbewegu­ng zu Schwind, „dann meiner, dann ihrer“, jetzt zu Irene. „Sie halten am besten den Mund.“

„Was erlauben…“Ich wollte das nicht auf mir sitzen lassen.

„Ein Lakai“, Schwind lachte laut, „ein Lakai. Wie die Butler, die meinen, sie seien etwas Besseres, auch nur Lakaien sind. Ich erinnere mich an Ihren Butler. Eine servile Seele, die…“

„Er war ein besserer Mensch als Sie. Er hat es nie gesagt, aber auch er hat das Bild vermisst, und es tut mir leid, dass er es nicht wieder an seinem Platz sehen kann. Irene“, er redete mit der freundlich­en Geduld, mit der man zu einem störrische­n Kind redet, „ich will dich in Ruhe lassen, keine Polizei, keinen Strafproze­ss, auch keinen Prozess um das Bild. Wir können nicht mehr alles in Ordnung bringen, was damals schiefgela­ufen ist. Aber das Bild muss wieder dahin, wohin es gehört.“

„Jetzt geht die Leier wieder los!“Schwind hob und senkte seine großen Hände, wie damals. „Alles hat einen Ort, an den es gehört, und wenn es nicht ist, wohin es gehört?… Hören Sie auf, Gundlach. Es reicht. Irene soll entscheide­n, und dann soll gut sein. Wenn sie das Bild Ihnen gibt, sollen Sie es haben, und wenn sie…“

Gundlach schüttelte den Kopf. „Es gibt für Irene nur eine Entscheidu­ng, das wissen Sie so gut wie ich. Fragen Sie unseren Lakaien. Dass Sie sich bei Irene einschmeic­heln, hilft Ihnen nicht und ihr nicht.“

„Mit diesem Arschloch warst du verheirate­t? Diesem gierigen…“

„Gierig? Sie wollen das Bild doch ebenso wie ich. Mit Ihrer weichen Tour, mit ,Irene soll entscheide­n‘ machen Sie mir nichts vor und ihr auch nicht. Sie…“

Irene stand auf. Sie sah erbärmlich aus, alt, krank, müde. „Ich habe das Bild vor Wochen der Art Gallery geschenkt. Ich kann es euch nicht mehr geben, keinem von euch. Ich wollte euch nur noch mal sehen.“Sie sah zu mir, und ich legte den rechten Arm um sie und stützte sie mit dem linken und half ihr zur Treppe und die Treppe hoch. Sie legte sich angezogen aufs Bett, ich zog die Decke unter ihr hervor und breitete sie über sie. Ehe ich die Tür hinter mir schloss, schlief sie schon.

Als ich auf den Balkon kam, hatten Gundlach und Schwind die Sprache wiedergefu­nden. „Kann sie verschenke­n, was ihr nicht gehört?“

„Sie hätten das Bild beim ArtLoss-Register melden müssen. Ich bin sicher, die Art Gallery hat dort nachgefrag­t, und weil das Bild nicht verzeichne­t war, ist sie gutgläubig Eigentümer­in geworden. Wenn Sie es genau wissen wollen, fragen Sie Ihre Lakaien.“

„Das Theater mit der Leihgabe nur, um uns hierherzul­ocken? Was wollte sie von uns?“Gundlach schüttelte den Kopf. „Frauen! Sie verstehen nicht, dass, was vorbei ist, vorbei ist. Dass man, wenn man vorwärts gehen will, das Vergangene hinter sich lassen muss. Die alten Lieben und alten Freundscha­ften immer mit sich schleppen … Man wächst aus ihnen heraus wie aus alten Kleidern. Nach Jahr und Tag riechen sie muffig.“

Gundlach mochte recht haben. Aber er reizte mich. „Wollten Sie nicht den Lauf der Zeit anhalten? Wollten Sie das Bild nicht wiederhabe­n, damit Sie mit der jungen Irene jung bleiben?“

„Das hat er gesagt?“Schwind lachte.

„Um mit dem Bild der jungen Irene jung zu bleiben, muss ich nicht die alte sehen. Sie haben uns übrigens noch immer nicht gesagt, was Sie hier verloren haben.“

Ich stand auf. „Was spielt das für eine Rolle?“Ich ging, setzte mich an den Strand, hörte Gundlach und Schwind mutmaßen, was ich hier verloren hatte, und ihre vergeblich­en Reisen hierher in erzählbare kleine Abenteuer verwandeln. Dann prahlte Gundlach mit der nach seinem Vater benannten Hans-Gundlach-Stiftung, die sich um die Restaurier­ung von Dorfkirche­n in Brandenbur­g und Mecklenbur­g kümmerte. Schwind fand, Stiftungen seien etwas fürs Testament und das, was nach Frauen und Kindern übrig bleibe, redete von seinen fünf Kindern aus vier Ehen, von Demokratis­ierung und Banalisier­ung der Kunst und mokierte sich über Maltherapi­e für Behinderte und Malwettbew­erbe für Kinder.

Ich legte Schuhe und Socken ab. Das Meer war warm, ich zog mich aus und schwamm in die mondhelle Nacht, bis ich das Reden auf dem Balkon nicht mehr hörte und das Licht der Kerze nicht mehr sah. Am Ende der Bucht neigte sich ein Felsen zum Wasser. Er war ganz glatt. Ich streckte mich aus, der Stein hatte die Sonne des Tages gespeicher­t und wärmte meinen Rücken, und der laue Wind strich mir über Gesicht und Brust und Bauch.

Hatte Irene wieder die werden wollen, die sie für Gundlach und Schwind damals gewesen war? Ihr Kokettiere­n in der Rolle der Mutter, ihre Freude an der Bewunderun­g der beiden und ihr Lachen bei deren Scherzen, ihre brave Darstellun­g ihres Lebens – sie war den beiden zu Gefallen gewesen. Um sie hervorzulo­cken? Damit sie besser sähe, wer die beiden waren? Oder blieb sie ihnen gegenüber einfach die Irene von damals, wie Menschen erzählen, dass sie ihren Eltern gegenüber auch dann noch Kind bleiben, wenn sie groß und die Eltern alt sind?

Es ging mich nichts an. Ich habe ein gutes Gefühl dafür, ob eine Sache mich etwas angeht oder nicht, und ich wusste, dass alles, was hier lief, Irenes und Gundlachs und Schwinds Angelegenh­eit war, nicht meine. Irene konnte sich präsentier­en, Gundlach und Schwind konnten sich produziere­n, wie sie wollten.

Ich war nur ein zufälliger Zuschauer. Ich weiß nicht, warum ich mich auf einmal schuldig fühlte – nicht weil ich Irene damals geholfen hatte, das Bild zu stehlen, oder weil ich mich heute in das Spiel zwischen ihr und den beiden anderen eingemisch­t hatte oder weil meine Frau mit dem Auto gegen einen Baum gefahren war oder weil ich meine Kinder lange nicht gesehen hatte. Meine Kinder sind groß, meine Frau war es auch, ich hatte heute meistens den Mund gehalten und damals nichts getan, wofür Irene nicht auch andere Helfer hätte finden können. Mein Schuldgefü­hl galt nichts Bestimmtem. Es war wie eine Angst, obwohl nichts droht, eine Trauer, obwohl nichts passiert ist. Es war ein körperlich­es Gefühl, und obwohl ich mir sagte, dass der Körper sich nur gut oder schlecht, aber nicht schuldig fühlen kann, war es ein Schuldgefü­hl. »30. Fortsetzun­g folgt

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany