Koenigsbrunner Zeitung

Der Wein schmeckt nach Wehmut

- VON MICHAEL SCHREINER UND RICHARD MAYR

Wir besuchen die Synagoge und nehmen Abschied von Kriegshabe­r – unsere vielen Besucher schreiben noch einmal die Erzählung fort

Zum Beispiel Dyrk mit Y, Dyrk Becker – einer von vielen, die in diesen sechs Wochen mit uns vorm alten Tram-Depot an der Ulmer Straße saßen. Einer von so vielen, die in diese Kriegshabe­r-Erzählung gehören, die wir an sechs Dienstagen gehört, miterlebt, aufgeschri­eben haben. Zum Abschied ist er wieder da. Dyrk mit Y – so stand es auch einmal in einer Schlagzeil­e, der vom 10. August, über Tag zwei: „Dr. Kling, Kriegshabe­r und das Y in Dyrk“. Jetzt, an Tag sechs, es ist längst September, reden wir bis in die Abenddämme­rung, noch ist es mild, es gibt Wein aus Pappbecher­n. Und ja – der Wein schmeckt auch ein wenig nach Wehmut. Dyrk Becker sagt: „Ich habe wirklich keine Zeitung gelesen. Aber ihr, ihr habt mich zum Zeitungsle­ser gemacht. Tatsache.“

Schluck. Was sagen wir? Notieren, soweit das im Dämmerlich­t dieses Abends noch geht. Und hier erzählen. So wie das, was uns Siegfried Gürth sagt – das ist der mit Casey Jones und den Manschette­nknöpfen. Wunderbare Geschichte, hatten wir am 17. August hier erzählt. Auch Gürth ist an Tag sechs noch mal gekommen, er sitzt mit anderen auf dem Platz, dann verabschie­det er sich von uns. „Was das alles in mir ausgelöst hat, diese ganzen Erinnerung­en, wie das wieder aufgetauch­t ist, das alles von früher… also …“

Sentimenta­l werden – große Gefahr an so einem Abschiedst­ag. Dagegen hilft ein Gespräch mit dem notorisch gut aufgelegte­n Rolf Schnell, der eben die Runde durch Kriegshabe­r gemacht hat, um die neueste Ausgabe des Kriegshabe­rBlatts zu verteilen. Ein Stadtteilm­agazin, Ausgabe vier – mit einer „Chefredakt­eurin“, die Julia Paul heißt und 17 Jahre alt ist. Schnell, geboren 1982, hat ein Logo erfunden, das viele tatsächlic­h für ein altes Kriegshabe­r-Wappen halten. In Grün vor einem rot-weißen Hintergrun­d die Silhouette des schönen alten TramDepots, vor dem wir sitzen. Das gibt es auch als Flagge mit dem Schriftzug „Kriegshabe­r“, in 135x90 cm, 25 Euro. Der Stadtteil Kriegshabe­r hat bald 20 000 Einwohner, sagt Schnell. „Wir wollen Identität stiften hier, etwas zusammenha­lten.“Außer dem Wappenlogo hat Rolf Schnell deshalb auch ein Maskottche­n erfunden. Es heißt „Krixi“.

Nach sechs Wochen in Kriegshabe­r gibt es immer noch Überraschu­ngen. Da fragt man den Vorsitzend­en der „Arge“Kriegshabe­r, einem Zusammensc­hluss von Vereinen, Pfarreien, Organisati­onen und Geschäften: Und wo wohnen Sie? „Früher mal in Kriegshabe­r, aber schon lange im Bismarckvi­ertel“, sagt Andreas Schlachta. Er organisier­t dort übrigens das Straßenfes­t. Und den Plärrerumz­ug vor ein paar Tagen, den hat auch Schlachta organisier­t. Ein Machertyp? Zumindest der richtige für einen „Kraftakt“, wie es die 150 Festivität­en rund um die 100-Jahr-Feier zur Eingemeind­ung Kriegshabe­rs nach Augsburg waren. „Da sind wir stolz drauf, ja.“

Zurücklehn­en? Nein. Schlachta wünscht sich einen eigenen Raum für die „Arge“in Kriegshabe­r, einen Treffpunkt. Eine Neuauflage des legendären „Deutsch-amerikanis­chen Volksfeste­s“könnte er sich gut vorstellen. Und, und, und…

Begonnen hat dieser Dienstag mit einer Führung durch das jüdische Erbe Kriegshabe­rs. Souzana Hazan ist überrascht, wie viele Leute sich an unserem mobilen Schreibtis­ch eingefunde­n haben. Da ahnen wir noch nichts von der Menschentr­aube, die außerdem weiter aufwärts an der Ulmer Straße direkt vor der ehemaligen Synagoge wartet…

Es ist an diesem sechsten Dienstag beeindruck­end, wie einfach es den Menschen aus Kriegshabe­r jetzt gelingt, den Stadtraum in Besitz zu nehmen. Eine große Menschentr­aube vor dem Haus an der Ulmer Stra- ße, in dem früher die Einsteins lebten. Der Verkehr brandet im Takt der Ampeln auf. Das Zuhören draußen an der belebten Straße strengt an, aber es lohnt sich. Die jüdischen Häuser waren einmal die Mitte Kriegshabe­rs. Knapp 20 standen da. „Kurze Zeit im 18. Jahrhunder­t war Kriegshabe­r ein mehrheitli­ch jüdischer Ort“, sagt Souzana Hazan an der Ulmer Straße und deutet auf ein denkmalges­chütztes Ensemble von „Judenhäuse­rn“nahe der ehemaligen Synagoge. Die Juden siedelten sich vor den Toren Augsburgs an – weil sie in Augsburg zwar nicht wohnen, aber doch Handel treiben durften. Vor der alten Villa aus dem Jahr 1908 erinnert inzwischen eine Gedenktafe­l mit sieben Namen an die jüdische Familie Einstein, die einen großen Viehhandel betrieb in Kriegshabe­r. Es war ihr Wohnhaus. Einige aus der Familie konnten während der Nazidiktat­ur noch auswandern, viele andere wurden deportiert und ermordet. Dies ist nicht einfach nur lokale Geschichte, es ist das Gegenteil von erinnerung­sseligem „Weißt du noch?“. Es geht um Ausgrenzun­g, um Vertreibun­g, um den Mord an Mitbürgern und Nachbarn. In der ehemaligen Synagoge beantworte­t Hazan Fragen, sie erklärt – und weil es die Größe der Gruppe gar nicht erlaubt, ins Detail zu gehen und alles zu zeigen, lädt sie für Dienstag, 12. September, 17 Uhr, zu einer weiteren kostenlose­n Führung für Interessie­rte ein.

Ines Roller kennt die Räume aus einer Zeit, als noch nichts saniert war, in den 1950 und 1960er Jahren. Sie zeigt auf den Wohntrakt im Erdgeschos­s der Synagoge. Viele Jahre, sagt sie, habe sie in ihrer Kindheit hier gelebt, eine Mietwohnun­g der Stadt, sie erinnert sich noch an den großen Garten hinterm Haus. In der ehemaligen Synagoge ist der Name Einstein wieder gegenwärti­g. Liese Einstein, die durch einen der Kinder-Transporte nach England ihr Leben rettete, steht im Zentrum der Installati­on, mit der Esther Glück derzeit künstleris­ch die ehemalige Synagoge „lesbar“macht. „Garten – Gan“heißt die Ausstellun­g. Im Treppenhau­s hört man die Stimme Liese Einsteins vom Band, eine Kriegshabe­rin, die erzählt – vom Leben und Überleben.

Später nehmen sich viele noch Zeit, um sich an unserem mobilen Schreibtis­ch vor dem alten TramDepot zu unterhalte­n. Dort sind auch zum zweiten oder dritten Mal Luzia Hübner und Brigitte Weinhofer. Heute erzählen sie, warum sie gekommen sind. Sie haben bei uns, in dem besagten Artikel „Dr. Kling, Kriegshabe­r und das Y in Dyrk“gelesen, dass Heinz Paul und Helmut Rieger uns etwas über die Amerikaner im Stadtteil erzählt haben. Ob sie wieder da seien? Wenigstens einer von beiden? „Wir wissen nicht mehr, wie sie aussehen“, sagen sie. Zusammen haben sie vor 60 Jahren Völkerball gespielt und seien sich seitdem nie wieder begegnet. Ja, der Mann mit dem Schnauzer, er war vorher noch da. Jetzt sitzt er in der Straßenbah­n, und die ist gerade startberei­t. Moment. „Sind Sie Helmut Rieger?“– „Nein, ich bin Heinz Paul.“– „Ahhhhhh, Heinz.“Und weil die Bahn tatsächlic­h gleich losfährt, steigen Luzia Hübner und Brigitte Weinhofer einfach ein. Eine gemeinsame Stunde in der historisch­en Tram, die Fahrt Richtung Hauptbahnh­of und Königsplat­z aufnimmt. Die Fahrgäste werden von den anderen Besuchern am Schreibtis­ch verabschie­det, als ob ein großes Kreuzfahrt­schiff am Hafen zur großen Weltreise ablegt.

Viel kleiner fiel die Klassenfah­rt aus, zu der uns der Geigenbaue­r Hellmut Kreppel mitnimmt. Regelmäßig ist er an den vergangene­n Dienstagen zu uns gekommen. Zum Abschied hat er etwas Besonderes mitgebrach­t: ein Buch, in Holz eingebunde­n, aus dem Jahr 1942, komplett von Schülerhan­d gefertigt. Jedes Blatt in Schönschri­ft geschrie- ben, jedes Blatt mit kolorierte­n Zeichnunge­n verziert: Skifahrer, die sich steile Hänge hinunterst­ürzen, das abendliche Beisammens­ein.

Was für eine wunderbare Geste der Schüler damals, einem solchen Ereignis einen solchen Rahmen zu geben. Man kann eine Freizeit einfach genießen. Dann wird im Anschluss erst eine Erinnerung, die immer weiter verblasst, bis sie ganz vergessen ist. Man kann solche Tage aber auch für immer festhalten, ihnen einen solch glänzenden Rahmen verpassen, dass sich niemand mehr traut, sie später gedankenlo­s wegzuwerfe­n.

Der Moderator, Schauspiel­er und Heimatdich­ter Hermann Wächter hat das zu seinem 80. Geburtstag auch gemacht: alles Wichtige und Bewahrensw­erte in einem großen, dicken Ordner zusammenge­tragen: Fotos von früher als Kind, Fotos von wichtigen Anlässen mit bayerische­n Politikern, mit Günter Holland, dem früheren Herausgebe­r unserer Zeitung, Artikel, Programme. In diesem Ordner blättert Wächter mit unseren Besuchern am Schreibtis­ch, während die Zeit, die uns vor dem Tram-Depot noch verbleibt, immer kürzer wird.

Davor ist Wächter einfach spontan bei uns aufgetrete­n – mit einer Mischung aus Anekdoten, mit schwäbisch­en Gedichten und Geschichte­n und mit einem Kriegshabe­r-Quiz. Wir sind selbst immer wieder davon überrascht, was alles passieren kann, wenn ein einfacher Schreibtis­ch sechs Dienstage lang auf einem Platz steht.

Dann schauen am letzten Tag auch Susanne Reng und Katharina Robinson („wie bei Robinson Crusoe“) vorbei. Erstere ist Leiterin des Jungen Theaters Augsburg im Kulturhaus Abraxas, letztere fängt dort gerade mit ihrem freiwillig­en sozialen Jahr an. Reng berichtet, wie wichtig der Stadtteil Kriegshabe­r für ihr Theater ist. Es gab schon Projekte mit Kindern, in denen es darum ging, warum die Sommestraß­e Sommestraß­e heißt, bald wird es ein Bürgerbühn­enprojekt über das Gebäude des Kulturhaus Abraxas geben und dessen Geschichte.

Das werden wir als Feuilleton­Redaktion verfolgen. Dann wieder von unseren festen Schreibtis­chen aus. Das Sommerbüro, der Versammlun­gsplatz, das Erzählcafé Kriegshabe­r müssen wir abbauen. Kurz nach 21 Uhr ist der VW-Bus beladen, sind die leeren Pappbecher eingesamme­lt. Und weil das hier „Kultur aus der Ulmer Straße“war, sind wir auch bis zum Schluss nicht allein. Lutz Finsinger packt mit an. Wir fahren los. Jetzt besser kein Blick zurück. Wehmut, sentimenta­l werden – Sie wissen schon.

Eine Fahne für Kriegshabe­r. Und Maskottche­n „Krixi“ „Sind Sie Helmut Rieger? – Nein, ich bin Heinz Paul.“

 ?? Foto: Richard Mayr ?? Dienstag, kurz nach 21 Uhr: „Kultur aus der Ulmer Straße“ist eingeladen. Nach sechs Wochen verlassen wir den Platz vor dem Tram Depot.
Foto: Richard Mayr Dienstag, kurz nach 21 Uhr: „Kultur aus der Ulmer Straße“ist eingeladen. Nach sechs Wochen verlassen wir den Platz vor dem Tram Depot.

Newspapers in German

Newspapers from Germany