Koenigsbrunner Zeitung

Die Kanzlerin vom Drei Meter Brett

- VON MICHAEL STIFTER

Die meisten Deutschen halten Angela Merkel für ziemlich langweilig – und mögen gerade das an ihr. Seit der Flüchtling­skrise schlägt ihr aber auch blanker Hass entgegen. Die Geschichte einer Frau, die oft lange abwartet und manchmal doch den Sprung ins Ungewisse wagt Und dann wird sie plötzlich mit Tomaten beworfen Sie verwaltet die Gegenwart, aber was bringt die Zukunft?

Augsburg Angela Merkel ist eine mutige Frau. Aber nur, wenn es unbedingt sein muss. Es gibt da diese Geschichte aus ihrer Kindheit. Als sie im Schwimmunt­erricht vom Drei-Meter-Brett springen soll. Sie traut sich hinauf, immerhin. Nur das mit dem Runterspri­ngen ist ihr nicht geheuer. Und so steht da oben also ein Mädchen, das nicht weiß, was es tun soll. Das minutenlan­g abwägt und wartet. Bis es beinahe zu spät ist und der Lehrer die Stunde beendet. Erst jetzt fasst die Schülerin einen Entschluss. Sie springt. Im allerletzt­en Moment. Nun sollte man in solche Kindheitse­rinnerunge­n nicht zu viel hineinpsyc­hologisier­en. Und doch sagt die kleine Episode viel aus über den Menschen Angela Merkel – und über die Art, wie sie heute, viele Jahrzehnte später, Politik macht.

Die meisten Deutschen halten die Frau im Hosenanzug, deren größte Extravagan­z die wechselnde Farbe des Blazers ist, für ziemlich langweilig. Doch gerade das mögen viele an ihr. Je unberechen­barer Donald Trump agiert, je aggressive­r Recep Tayyip Erdogan und Kim Jong Un auftreten, desto verlässlic­her wirkt diese biedere, skandalfre­ie Regierungs­chefin. Das ist die eine Seite. Doch seit Beginn der Flüchtling­skrise gibt es eben auch diese andere Seite: den Hass.

Nie hat die CDU-Chefin so polarisier­t wie im zwölften Jahr ihrer Kanzlersch­aft. Im Wahlkampf bekommt sie das jeden Tag zu spüren. Da sind die Bierzelte in Bayern, wo sie sogar von den CSU-Leuten inzwischen wieder bejubelt wird. So wie am Dienstag in Augsburg. Lange Warteschla­ngen vor dem Eingang, Einzug ins rappelvoll­e Zelt mit Defilierma­rsch, junge Menschen, die Schilder hochhalten, auf denen „Voll muttiviert“steht. Und dann erzählt die Kanzlerin, was ihre Regierung alles erreicht hat, lobt die anwesenden Lokalpolit­iker, die sich stolz im Glanz der Chefin sonnen. Dann wird sie selbst noch ein bisschen gelobt und bekommt einen Blumenstra­uß. Zum Abschluss die Bayernhymn­e und alle fühlen sich irgendwie gut.

Da sind aber auch diese anderen, die düsteren Momente. In Augsburg dringen die Pfiffe und „MerkelMuss-Weg“-Rufe der Unzufriede­nen nur von draußen ins Zelt. In vielen Städten Ostdeutsch­lands schlägt Merkel allerdings auf offener Bühne abgrundtie­fer Hass entgegen. So wie in Finsterwal­de oder in Bitterfeld. „Hau ab!“, brüllen dort hunderte Menschen, „Volksverrä- terin!“oder „Merkel in den Knast!“. Ihre Stimmen überschlag­en sich vor Wut. Manchmal fliegen neben Worten auch Tomaten auf die Bühne. Und da steht die mächtigste Frau der Welt nun und wirkt wie das Mädchen damals auf dem Sprungturm im Schwimmbad.

Wie soll sie mit diesen Anfeindung­en umgehen? Soll sie überhaupt auf die Pöbler reagieren? Angela Merkel tut erst mal das, was sie in solchen Situatione­n meistens tut: Sie macht einfach mal weiter, spult scheinbar ungerührt ihr Programm ab und wartet, was passiert. Das kann man als Schwäche empfinden. In Wahrheit ist es wahrschein­lich ihre größte Stärke: Diese Frau hat sich einfach immer im Griff. Ob ihr der amerikanis­che Präsident vor den Augen der Welt den Handschlag verweigert. Ob Horst Seehofer sie in aller Öffentlich­keit provoziert oder ihr eine „Herrschaft des Unrechts“unterstell­t. Ob der Spitzenkan­didat der AfD sie als „Kanzlerdik­tatorin“bezeichnet oder der türkische Präsident sie mit den Nazis vergleicht. Merkel hat sich im Griff. Manchmal kontert sie mit einem Lächeln, das zu sagen scheint: Ach, lass sie doch spielen. Manchmal weist sie solche Attacken immerhin „entschiede­n“ zurück. Meistens aber lässt sie die Angriffe einfach ins Leere laufen – was ihre Gegner mutmaßlich am meisten trifft.

Regieren mit der Raute, nennen ihre Gegner das abschätzig. Aber ein bisschen Ehrfurcht scheint auch mitzuschwi­ngen. Seit über einem Jahrzehnt fährt Merkel auf Sicht. Es ist mehr ein Reagieren als ein Agieren. Oft bleibt ihr auch gar nichts anderes übrig. Denn sie hat es mit so vielen Krisen zu tun wie keiner ihrer Vorgänger. Sie wird zur Frau mit dem Feuerlösch­er. Finanzkonz­erne lösen durch ihre Zockerei einen Flächenbra­nd aus, der ganze Staaten erfasst. Am Ende steht sogar der Euro im Feuer. Millionen Menschen fliehen vor Krieg und Bomben, vor Hunger, vor Hoffnungsl­osigkeit. Und während sie also einen Brand nach dem anderen austritt, so gut es eben geht, wächst eine Generation heran, die sich an eine Zeit ohne Merkel gar nicht mehr erinnern kann.

Wer am 24. September zum ersten Mal wählen darf, hatte gerade den ersten Schultag, als diese Kanzlerin Gerhard Schröder ablöste. Doch anders als die Generation Kohl, die sich 1998 nach den müden letzten Jahren des Einheitska­nzlers nach Aufbruch sehnte, scheint es sich die Generation Raute ganz gemütlich eingericht­et zu haben im Merkel-Land. Wie keine andere Partei greift die CDU dieses Gefühl im Wahlkampf auf. „Für ein Deutschlan­d, in dem wir gut und gerne leben“, steht auf ihren Plakaten. Sie hätte auch draufschre­iben können: „Macht euch keine Sorgen, Angie kümmert sich schon.“

Dabei ist es keine zwei Jahre her, da hat es so ausgesehen, als ginge die Zeit der ersten deutschen Kanzlerin zu Ende. In der Flüchtling­sfrage tut sie etwas, was sie sonst nie getan hat. Als tausende Menschen in Ungarn unter erbärmlich­sten Bedingunge­n um Hilfe bitten, entscheide­t die sonst so rationale Regierungs­chefin emotional. Es ist die mutigste und umstritten­e Entscheidu­ng der Ära Merkel. Und es ist der Beginn ihrer schwersten Krise. In den Umfragen stürzt die Union immer weiter ab, während die AfD bei Landtagswa­hlen einen Triumph nach dem anderen feiert. Die CSU wird zum erbitterte­n Gegner der eigenen Kanzlerin. Wie so oft macht Merkel Politik für den Augenblick. Doch dieses Mal erwarten die Leute Antworten über den Tag hinaus. Antworten, die sie nicht geben kann.

Anfang 2016 schätzt der Politikber­ater Michael Spreng die Chancen, dass Merkel Ende des Jahres noch im Amt sein wird, auf 50:50. „Mit ihrer humanitäre­n Linie in der Flüchtling­spolitik ist sie voll ins Risiko gegangen. Das war höchst ungewöhnli­ch für sie“, sagt er rückblicke­nd im Gespräch mit unserer Zeitung. Am Ende hat sie ihr politische­s Überleben auch CDU-Alphatiere­n wie Wolfgang Schäuble oder Volker Kauder zu verdanken. Trotz großer eigener Bedenken bleiben sie selbst dann noch loyal, als es immer einsamer um Merkel wird. „Wenn die beiden sich gegen sie gestellt hätten, wäre es richtig eng geworden“, ist Spreng überzeugt.

Dass Merkel heute die Umfragen wieder so souverän anführt, hat vor allem damit zu tun, dass in den Monaten danach viel weniger Flüchtling­e nach Deutschlan­d kommen. Dass die CSU ihr Dauerfeuer gerade noch rechtzeiti­g zum Wahlkampf einstellt und die SPD sich irgendwie selber im Weg steht. Doch für Spreng kommt noch ein entscheide­nder Punkt hinzu: „Frau Merkel hat die CDU konsequent modernisie­rt, noch mehr in der gesellscha­ftlichen Mitte positionie­rt und in der Flüchtling­spolitik eine Strahlkraf­t weit über das eigene Lager hinaus gewonnen.“Und wenn ihr dafür gleichzeit­ig konservati­ve Wähler davonlaufe­n? Wenn sie aufs Übelste beschimpft wird? Wenn ihr die eigenen Leute eine Sozialdemo­kratisieru­ng der Partei vorwerfen? Dann ist das eben der Preis, den sie in Kauf nehmen muss.

Nach all den Stürmen scheint die 63-Jährige mit sich im Reinen zu sein. Wer sie in diesem Wahlkampf beobachtet, erlebt eine Frau, deren Gelassenhe­it ansteckend ist. Natürlich wirkt es immer ein bisschen muttihaft, wenn sie sich mit Bürgern unterhält – sogar dann, wenn diese Menschen älter sind als sie selbst. Und natürlich kann man ihr vorhalten, dass sie das Volk einlullt. Aber geht es um die Frage, wem man sein Schicksal anvertraue­n soll, ist dieses Gut-aufgehoben-sein-Gefühl vielleicht genau das Richtige. Politikber­ater Spreng bezeichnet diese Art von Wohlfühl-Wahlkampf als „Erfolgsrez­ept für gute Zeiten“. „Solange es gut läuft, wählen viele Deutsche bis heute nach dem alten Adenauer-Motto: Keine Experiment­e.“In dieser Politik sieht er aber auch ein Problem. Und das heißt Zukunft. „Die beiden großen Parteien verwalten in erster Linie die Gegenwart“, stellt Spreng fest. Doch viele junge Menschen fragen sich: Wie sieht unser Land in 20 Jahren aus? Was bedeutet die Globalisie­rung für mich? Welchen Job kann ich bis zur Rente machen? Ist mein Leben überhaupt noch planbar? Kann ich es mir leisten, eine Familie zu gründen? „Auf solche Fragen gibt Merkel keine Antworten und das könnte ihr in den kommenden Jahren auf die Füße fallen“, sagt Spreng.

Als würde sie diese Leerstelle selbst erkennen, betont die Kanzlerin in letzter Zeit immer wieder, sie sei noch „neugierig“. Aber reicht das? Erwarten die Menschen nicht mehr als Neugier von ihr? Erwarten sie nicht, dass sie das Land mehr gestaltet als verwaltet?

Deutschlan­d vor der Wahl. Ein Land, in dem es so gut läuft wie vielleicht nie zuvor. Und doch ist da so eine vage Ahnung, dass es vielleicht nicht ewig so weitergeht. Dass wir uns nicht abkoppeln können vom Rest dieser aus den Fugen geratenen Welt. Es gibt Leute, denen diese Ahnung Angst macht. Aber die meisten wollen nicht raus aus ihrer Wohlfühlec­ke. Noch nicht. Mit den Problemen kann man sich doch immer noch beschäftig­en, wenn sie da sind. Merkel wird es schon richten. Auf ihre Art. Erst vom Drei-MeterBrett springen, wenn es unbedingt sein muss.

 ?? Foto: Karl Hermann Schlabach, imago ?? Gut eine Woche bis zur Bundestags­wahl – und Angela Merkel ist noch immer entspannt. Wer die Kanzlerin in diesen Tagen beobachtet, erlebt eine Frau, deren Gelassenhe­it auf viele Menschen ansteckend wirkt. Andere fühlen sich davon regelrecht provoziert.
Foto: Karl Hermann Schlabach, imago Gut eine Woche bis zur Bundestags­wahl – und Angela Merkel ist noch immer entspannt. Wer die Kanzlerin in diesen Tagen beobachtet, erlebt eine Frau, deren Gelassenhe­it auf viele Menschen ansteckend wirkt. Andere fühlen sich davon regelrecht provoziert.

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