Mit ganzem Herzen für Europa
Jean-Claude Juncker hält eine flammende Rede im Parlament. Seine Ideen für die Zukunft der EU haben es in sich
Straßburg Es ist Zeit zum Aufbruch. Das jedenfalls will Jean-Claude Juncker vermitteln, als er an diesem Mittwochmorgen ans Pult des Straßburger Europaparlamentes tritt. Der EU-Kommissionspräsident hat sich viel vorgenommen. „Europa hat wieder Wind in den Segeln“, heißt seine Botschaft, nachdem er noch vor genau einem Jahr an gleicher Stelle von „einem schlechten Zustand“gesprochen hatte, in dem sich die Gemeinschaft befinde. Doch in diesem Jahr ist alles anders. Die Populisten sind bei den Wahlen 2017 gescheitert. In Frankreich sitzt ein junger Staatspräsident, der die EU umbauen will, in Berlin kann er auf eine Kanzlerin setzen, die ebenfalls mehr Zusammenarbeit in Europa fordert. Juncker macht mit. Und wie.
Der Euro soll bis 2025 in allen Mitgliedstaaten der Union eingeführt, die EU-Spitze ausgedünnt werden: An die Stelle von zwei Präsidenten von Kommission und Europäischem Rat (EU-Gipfel) müsse einer treten. „Ich werde mich nicht bewerben“, fügt er sofort hinzu. Für die Eurozone fordert er einen Wirtschafts- und Finanzminister, der zugleich für Währungsfragen in der Kommission zuständig sein soll.
Immer wieder wird der Kommissionschef, der von sich selbst sagt, er habe „sein ganzes Leben für Europa gearbeitet und manchmal an Europa gelitten“, von Beifall unterbrochen. So auch, als er der Türkei offen sagt, sie solle „endlich aufhören, unsere Staats- und Regierungschefs mit Nazi-Vergleichen zu beschimpfen“. Und dann noch hinterherschiebt, dass „es auf absehbare Zeit für Ankara keine Mitgliedschaft in der EU“geben werde. Es ist ein starker, selbstbewusster Präsident, der sich an die Spitze einer Gemeinschaft stellt, die „viel Grund zur Zufriedenheit hat“.
Euro Alle EU Länder sollen langfris tig den Euro übernehmen. Eine Er weiterung der Währungsunion beträfe Bulgarien, Dänemark, Kroatien, Po len, Rumänien, Schweden, Tschechien und Ungarn. Juncker schlägt vor, ärmeren Mitgliedern mit neuen Hilfen rasch den Weg in den Euro zu ebnen. Außerdem soll das Amt eines EU Fi nanzministers geschaffen werden. Dieser wäre gleichzeitig Vizepräsident der EU Kommission und Vorsitzender der Eurogruppe, einem Gremium, in dem die Staaten der Eurozone ihre Wirtschaftspolitik koordinieren.
Schengen Alle EU Länder sollen der Schengenzone ohne Grenzkontrollen beitreten. Bislang gehören 22 der EU Mitglieder zu dem Gebiet.
Handel Bis 2019 soll die EU Frei handelsabkommen mit Australien und Neuseeland abschließen. Investo ren aus Drittstaaten sollen künftig genauer unter die Lupe genommen werden. Damit sollen Übernahmen aus Ländern wie etwa China strenger geprüft werden können.
Migration Die EU soll Flüchtlingen weiter offenstehen, es sollen legale Migrationswege geschaffen und die skandalöse Situation in Flüchtlings lagern in Libyen beendet werden. Abge wiesene Asylbewerber sollen konse quenter abgeschoben werden.
Währungsfonds Der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) soll schrittweise zu einem Europäischen Währungsfonds ausgebaut werden.
Spitze Nach Junckers Willen soll es nicht mehr zwei Präsidenten für den Europäischen Rat, der höchsten Ebene der Zusammenarbeit der EU Länder, und der Kommission als politisch unab hängiger Exekutive geben, sondern nur noch ein EU Präsidentenamt. Diese Maßnahme soll mehr Handlungskraft und schnellere Entscheidungen ermög lichen.
Cyberkriminalität Eine europäische Agentur für Cybersicherheit soll ge schaffen werden, um die EU besser gegen Cyberattacken zu rüsten.
Arbeitsmarkt Überall in der EU sollen Arbeiter denselben Lohn für dieselbe Arbeit an einem Ort erhalten. Eine EU Arbeitsbehörde soll geschaf fen werden, um faire Bedingungen im Binnenmarkt durchzusetzen.
Ernährung Es soll keine Lebensmit tel zweiter Klasse in einem Teil der EU Länder geben. Gleichartige Produk te sollen überall denselben Anteil etwa an Fleisch, Fisch oder Kakao bein halten. (dpa)
Die Arbeitslosigkeit befinde sich auf einem Neun-Jahres-Tief, acht Millionen neue Jobs seien seit 2014 entstanden, 235 Millionen der 511 Millionen EU-Bürger haben Arbeit. Die Industrie werde man stärken, kündigt Juncker an. „Bei Innovation, Digitalisierung und Dekarbonisierung wollen wir zur Weltspitze werden.“Zugleich fordert er mehr Abwehrbereitschaft und Einsatz für die europäischen Werte. „Im Mittelmeer rettet Italien Europas Ehre“, lobt er den Einsatz der Regierung in Rom, die über 100000 Flüchtlinge aufgenommen habe. Nun werde die Kommission eine konsequentere Rückführung vorschlagen.
„Ich habe mein ganzes Leben für Europa gearbeitet und manchmal an Europa gelitten.“
Jean Claude Juncker
Die Grenzen seien inzwischen dicht. Doch zu den Werten gehöre auch die Rechtsstaatlichkeit. Ohne Polen oder Ungarn zu nennen, die sich weigern, Flüchtlinge aufzunehmen und ein entsprechendes Urteil des Europäischen Gerichtshofes umzusetzen, bezeichnet er die mangelnde Solidarität als „traurig“.
„Danke für den Aufbruch“, antwortete der Chef der christdemokratischen Mehrheitsfraktion, Manfred Weber (CSU), als der Kommissionspräsident fertig ist. „Eine mutige Rede“, lobte Reinhard Bütikofer, Chef der europäischen Grünen. Tatsächlich hat Juncker die Diskussion um eine Zukunft der EU aufgegriffen und befeuert. Irgendwo zwischen den französischen Forderungen von Präsident Emmanuel Macron, der sehr weitgehende Reformen fordert, und der zurückhaltenden Position der deutschen Kanzlerin, die Vertragsänderungen vermeiden will, bemühte er sich um Neuerungen, die „möglich“seien.