Koenigsbrunner Zeitung

Tollkühnes Tänzchen mit dem Tod

- VON RÜDIGER HEINZE

Abgeschrie­ben wurden sie schon vor mehr als 40 Jahren. Jetzt zeigten sie im Münchner Olympiasta­dion, wie belastbar Mitsiebzig­er auch nach etwas unstetem Lebenswand­el noch sein können. Vier Fossilien als Triebtäter

München Was soll man schon heute noch über die Rolling Stones sagen!

Dieser etwas verlegene Ausruf stammt nicht aus dem Jahr 2017, er stammt nicht einmal aus diesem Jahrhunder­t, er stammt exakt aus dem Jahr 1973 – abgedruckt in der nicht unmaßgebli­chen Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung zu Beginn einer Konzertkri­tik, die zwei Absätze später befand: „Wenn er [Mick Jagger] in irgendein Nirwana entschwebt­e, wäre die Pop-Musik nicht ärmer.“

Jagger und seine Spießgesel­len mochten aber noch nicht entschwebe­n – was sie in die Lage versetzte, 1976 wieder durch Deutschlan­d zu touren, worauf ihnen besagte FAZ attestiert­e: „Die Rolling Stones besitzen die Anziehungs­kraft von Fossilien.“Seitdem sind gut 41 Jahre vergangen, mancher Musikkriti­ker hat seinen Dienst quittiert, und am Dienstagab­end spielten diese Fossilien, diese Versteiner­ungen, im quasi ausverkauf­ten Münchner Olympiasta­dion noch einmal zum Tanz auf. Mensch, was können doch Zeugnisse aus dem geologisch­en Zeitalter vor dem Holozän noch rocken! Es war eine Wucht.

„Please allow me to introduce myself“: Mit diesen scheinheil­igen Worten von Luzifer Jagger brach der Abend wie ein Hurrikan herein, und Keith Richards setzte auf der Lead-Gitarre den ersten Blitzschla­g und den ersten Schmerzstr­ahl wie ein Signum für insgesamt 140 Minuten schneidend­en, harten, energetisc­hen Rock. Wäre man gezwungen, diesen Münchner Auftritt unter zwölf Stationen der Europa-Tour „No Filter“in einem Satz zusammenzu­fassen, so müsste dieser die Diagnosen Hochdruck, Hitzigkeit, Fieber, Kärnerarbe­it unter Aufputschv­erdacht enthalten.

Das aber ist exakt das, was diese einst so rebellisch­e Musik in ihrem ästhetisch­en Kern ausmacht. Und das konnten die vier Stones im Gesamtalte­r von 293 Jahren und einem gemeinsame­n Dienstalte­r von 207 Jahren noch einmal musikalisc­h glaubhaft heraufbesc­hwören: historisch­e Musik in – genuin – historisch­er Aufführung­spraxis. Mehr und Besseres kann nicht erwartet werden.

Gewiss, manchen der traditione­ll exaltierte­n Bewegungen des nach wie vor große Wegstrecke­n zurücklege­nden und dabei großklappi­g singenden Jaggers sieht man altersspez­ifische Motorik an. Und – seien wir ehrlich – manche der Videoseque­nzen auf den vier riesigen Displays im Stadion zeigen Ron Wood und Keith Richards – die jeder für sich den Tod weiß Gott oft herausgefo­rdert haben – nachgerade wie Zombies. Aber das ist die Optik. Die Akustik, technisch glasklar übrigens – jedenfalls im Block A 1 –, spricht eine andere, eine hartgestäh­lte, vitale Sprache. Und die Stones wären nicht die Stones, wenn sie nicht auch in München einen Kommentar liefern würden zu ihrer eigenen Verwitteru­ng. Gehen wir noch einmal in das Jahr 1973 zurück, als ihr Album „Goats Head Soup“erschien und dieses mit einer kessen Sohle eröffnet wurde, nämlich mit „Dancing with Mr. D“. Jetzt haben sie diesen Song, einen Totentanz, überrasche­nd noch einmal aufgenomme­n in ihre Tournee: Mr. D, das ist Mr. Death. Und mit ihm wagten die vier selbstiron­isch ein tollkühnes Tänzchen.

Das war die eine Überraschu­ng in München, die zweite das funkige „Beast of Burdon“, vom Publikum via Internet aus vier Song-Angeboten erwählt, die dritte jene zwei überragend stampfende­n BluesNumme­rn „Just Your Fool“und „Ride ’Em On Down“und die vierte, auch das ist zu erwähnen, der passend ausgesucht­e bluesnahe Supporting Act „Kaleo“aus Island.

Der Rest waren die Kracher aus 55 Jahren Bandgeschi­chte, angefangen vom frühen „Paint It Black“mit den berühmten „Sitar“-Riffs (1966) über die ekstatisch­en „Honky Tonk Women“bis zu „Start Me Up“(1981). Und wenn noch ein Grundzug dieses Leistung-gegen-CashEreign­isses genannt werden soll: Nicht wenige der Songs endeten insistiere­nd in kreisenden Repetition­en. Manchmal überreizt, öfter rauschhaft mit anarchisch­en, dreckkonta­minierten Einwürfen von Keith Richards.

Wenn dieser Abend voller Volksfestu­nd Familienko­nzert-Charakter der letzte Auftritt der Rolling Stones an der Isar gewesen sein sollte, dann haben sie sich nicht nur respektabe­l, dann haben sie sich formidabel bis exzellent und unvergessl­ich verabschie­det.

Die Setlist von München

Sympathy For The Devil It’s Only Rock’n’Roll Tumbling Dice Out Of Control Just Your Fool Ride ‘Em Down Dancing With Mr. D You Can’t Always Get What You Want Beast Of Burden Paint It Black Honky Tonk Women Happy Slipping Away Midnight Rambler Miss You Street Fighting Man Start Me Up Brown Sugar Satisfacti­on Gimme Shelter Jumpin’ Jack Flash

 ?? Foto: Marcus Merk ?? Noch einmal, zum neunten Mal, im Münchner Olympiasta­dion: die Rolling Stones mit Ron Wood (l.), Charlie Watts (M.) und Ani mator, Einpeitsch­er und Vibrator Mick Jagger. Hier fordert er Sympathie für den Teufel ein.
Foto: Marcus Merk Noch einmal, zum neunten Mal, im Münchner Olympiasta­dion: die Rolling Stones mit Ron Wood (l.), Charlie Watts (M.) und Ani mator, Einpeitsch­er und Vibrator Mick Jagger. Hier fordert er Sympathie für den Teufel ein.

Newspapers in German

Newspapers from Germany