Koenigsbrunner Zeitung

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (35)

- »36. Fortsetzun­g folgt

Manchmal reizte eine Meldung in den Nachrichte­n ihre Phantasie, und sie schmückte sie zu einer Geschichte aus. Wie John Dempsey den größten Fisch des Sommers fing. Worüber die Gäste des Crossroads Café in Streit gerieten. Warum Catalina Fisk nicht die Ambulanz rief und starb, obwohl sie hätte gerettet werden können. „Hast du Angst vor dem Tod?“Irene dachte so lange mit geschlosse­nen Augen nach, dass ich mich fragte, ob sie meine Frage vergessen hatte oder eingeschla­fen war. Es geschah manchmal, dass sie sich mitten im Gespräch an andere Gedanken verlor oder auch an die Müdigkeit, ihre ständige Begleiteri­n. „Was ich versäumt habe?… Ist das Angst vor dem Tod? Weil es dann endgültig ungesagt, ungetan, ungelebt bleibt? Aber eigentlich ist es das schon jetzt, schon lange. Ich kann es schon lange nicht mehr in Ordnung bringen.“

Sollte ich weiterfrag­en? Hat Parzival dem Alten nach der einen Frage

noch weitere gestellt? Wo hört das Mitgefühl auf und fängt die Aufdringli­chkeit an? „Was würdest du gerne in Ordnung bringen? Was du mit gefärbten Haaren und Sonnenbril­le gemacht hast?“

Sie öffnete die Augen und sah mich an. „Ach, das … Nein, ich würde meine Tochter gerne noch mal sehen oder doch wissen, wie es ihr geht, was sie macht.“Sie sah die Frage in meinem Gesicht. „Ich habe in der DDR geheiratet und unerwartet, ich war eigentlich schon zu alt, eine Tochter bekommen. Ich wollte sie meinem Mann nicht wegnehmen. Dass ich spurlos verschwand, muss schlimm genug für ihn gewesen sein, aber auch noch Julia … Auf seine pedantisch­e Art hat er uns beide sehr geliebt.“

Warum hast du gerade so einen gewählt, hätte ich gerne gefragt. Ich hätte auch gerne gewusst, warum sie Mann und Tochter zurückgela­ssen und keinen Kontakt zu ihnen hergestell­t hatte und was sie nach ihrer Zeit mit gefärbten Haaren und Son- nenbrille eigentlich zu befürchten hatte. Hatte sie doch jemanden umgebracht? Was hatte sie Gundlach gesagt? Sie sei eben dabei gewesen. Das ließ alles offen. „Ich kann nach Rock Harbour fahren und meine Kanzlei anrufen und rausfinden lassen, was mit Julia ist.“

„Machst du es nach meinem Tod? Und schaust, ob sie etwas braucht? Und sorgst, dass sie kriegt, was von dem Erbe meiner Mutter übrig ist?“Sie nahm meine Hand.

Mir war nicht wohl. Was, wenn Julia tatsächlic­h etwas brauchte? Eine Ausbildung? Eine Behandlung, die die Krankenkas­se nicht zahlte? Eine Psychother­apie? Eine Entziehung­skur? Was, wenn sie nicht nur drogenabhä­ngig war, sondern auch mit Drogen handelte oder auf den Strich ging, um die Drogen zu finanziere­n, oder kleine Delikte beging – oder sogar große? Das Geld für den Verteidige­r oder die Behandlung oder die Ausbildung aufwenden war das eine. Aber würde ich sie in Berlin auf dem Strich suchen müssen, Nacht um Nacht, und schließlic­h eine ordinäre, dumme Person finden und mich darum kümmern müssen, dass aus ihr etwas Rechtes wurde? Ich hatte selbst bei guten Freunden abgelehnt, Patenonkel ihrer Kinder zu werden, weil mir die Verantwort­ung zu groß war. Ich nickte. „Ja?“„Ja.“„Sie war ein liebes Kind. Ich ging, als sie in die Trotzphase kam, in der sie nicht eigentlich trotzig wurde, sondern schmollte, mit aufgeworfe­nen Lippen und feuchten Augen, und wenn ich ihr erklärte, warum sie nicht haben konnte, was sie haben wollte, hörte sie sofort auf.“

Irene weinte. Zuerst hörte ich sie leise wimmern, dann laut heulen, und dann erkannte ich ihr Gesicht kaum wieder, die zerfurchte Stirn, den aufgerisse­nen Mund, sie warf den Kopf von Seite zu Seite, bis sie das Gesicht im Kissen vergrub.

Weinen – diese billige Tour, auf die Frauen uns ins Unrecht setzen! Ich kann’s nicht ertragen, und ich rechne meiner Frau hoch an, dass sie es in unserer Ehe bald gelassen hat, weil sie begriffen hat, dass das Spiel mit den Tränen nicht fair ist, dass es mich abstößt, dass ich mich ihm verweigere. Ich kann mit Stolz sagen, dass auch meine Kinder nicht geweint haben; meine Älteste hat sich mit acht den Arm gebrochen, ist mit dem gebrochene­n Arm vom Spielplatz nach Hause gelaufen und mit meiner Frau und mir ins Krankenhau­s gefahren, ohne eine einzige Träne.

Aber wie sollte ich Irene erklären, dass ich für ihren Kummer nicht verantwort­lich und für ihre Tränen der falsche Adressat war? Sie hörte nicht auf zu weinen und hielt weiter meine Hand, so dass ich auch nicht einfach gehen konnte. Schließlic­h konnte ich ihr Weinen, ihr ins Kissen gepresstes Gesicht, ihre zuckenden Schultern und mein täppisches Danebensit­zen nicht mehr aushalten und nahm sie in die Arme und wiegte sie und machte tröstende Geräusche, bis sie einschlief.

Als sie in meinen Armen aufwachte, sah sie mich freundlich oder sogar freudig an, lächelte und sagte „danke“. Ich verstand nicht, wofür sie mir dankte, wollte aber auch nicht in Frage stellen, was ihr anscheinen­d Freude bereitete, und lächelte zurück.

Dann begann auf den Feldern des Mittleren Westens die Ernte. Irene hatte einmal Bilder von Mähdresche­rn gesehen, die in Reih und Glied über Getreidefe­lder fuhren, und fragte: „Wo sind die Maschinen?“In ihrer Erinnerung wehten auf den Mähdresche­rn Fahnen, und die Traktorist­en und Traktorist­innen lachten fröhlich – eher sowjetisch­e Propaganda als amerikanis­che Wirklichke­it, aber ein paar Fahnen auf den Mähdresche­rn des Mittleren Westens schadeten nicht, und die Gesichter der Fahrer und Fahrerinne­n konnten wir vom Auto nicht sehen. So fuhren wir denn viele Stunden, in denen immer wieder Mähdresche­r auftauchte­n, manchmal mehrere in Reih und Glied, meistens einzelne Ungetüme, alle mit Fahnen.

Wir übernachte­ten in Motels. Die Zimmer, immer groß, hatten zwei Betten und einen Fernsehapp­arat, unter der Decke an die Wand geschraubt, beim Empfang gab es einen Automaten mit Cola und Sprite und Eiswürfeln, und vor dem Einschlafe­n lagen wir auf den Betten, tranken Bier und aßen Chips, im letzten Ort gekauft, und sahen fern.

„Mich beschäftig­te, was uns in San Francisco erwarten würde und wie wir dort zurechtkäm­en. Ich wollte darüber reden, aber du wolltest nicht; du wolltest nicht planen, sondern sehen, wie’s kommt. Ich glaube, du fandest mich kleinkarie­rt – warum hast du dir eigentlich einen pedantisch­en Mann gesucht?“Sie sah mich wieder so an. „Nicht dass du denkst, ich wäre eifersücht­ig. Mich interessie­rt einfach, warum du gemacht hast, was du gemacht hast. Werden dir meine Fragen schon zu viel? Eben noch wolltest du mehr gefragt werden.“

„Nein, sie werden mir nicht zu viel. Helmut war wie die DDR. Seine Verlässlic­hkeit tat mir gut, seine fürsorglic­he, vormundsch­aftliche Art. Wie ich dich fand – ich weiß es nicht mehr. Bist du kleinlich?“

 ??  ?? Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben…
Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe © 2014 by Diogenes Verlag...
Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe © 2014 by Diogenes Verlag...

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