Koenigsbrunner Zeitung

Stefan Kessler kann seine Kunden nur hören

Seit sechs Jahren betreibt der Augsburger ein Tierfutter­geschäft im Domviertel. Er wollte sich etwas beweisen, sagt er. Denn der 52-Jährige ist blind. Wie er es trotzdem schafft, einen eigenen Laden zu führen

- VON INA KRESSE

Stefan Kessler steht zwischen den Holzregale­n seiner Tierfutter­handlung im Domviertel. Ein Paar kauft bei ihm gerade für den gemeinsame­n Hund und die zwei Katzen ein. Der Ladeninhab­er tippt die Preise in einen Taschenrec­hner. Das Gerät spricht dazu, sagt laut jede Zahl an. Für Kessler ist das eine große Hilfe. Denn er ist blind. Um trotzdem seinen eigenen Laden führen zu können, hat er sich ein paar Kniffe einfallen lassen.

Die beiden Stammkunde­n machen einen Großeinkau­f in dem Geschäft in der Kohlergass­e. Sie hatten bereits vorbestell­t. „Wir brauchen für unsere Katzen 35 Mal Geflügelra­gout“, beginnt der Mann aufzuzähle­n. Stefan Kessler geht haarscharf an ihm vorbei zu einer Gefriertru­he. „Jetzt hätte ich sie fast über den Haufen gerannt. Aber damit müssen sie leben“, sagt er trocken zu dem Kunden. Sechs Jahre schon betreibt der 52-Jährige sein Geschäft „Tier-Natur-Oase“. Es ist

Ordnung ist für ihn sehr wichtig

ein besonderer Tierfutter­handel. Kessler hat sich auf biologisch artgerecht­e Rohfütteru­ng, auch BARF genannt, spezialisi­ert. Der Augsburger schwört darauf. Durch die Umstellung auf diese Ernährung habe er seine Blindenhün­din Taiga vor dem Einschläfe­rn bewahrt, erzählt er.

Eigentlich arbeitet der großgewach­sene Mann bei der Augsburger Justiz. Die Tierfutter­handlung betreibt er zusätzlich. Auf die Idee dazu kam er erst durch seine Erblindung. Kessler verlor vor 16 Jahren sein Augenlicht. Schuld war eine genetische Erkrankung. Sie verhindert­e, dass sein Sehnerv durchblute­t wurde. Er sieht seitdem nichts mehr. Null Prozent. „Ich will mein Leben trotzdem recht normal haben“, sagt er.

Das sei nun mal seine Art. Mit einem eigenen Laden wollte er sich etwas beweisen. Dass man eben auch als blinder Mensch selbststän­dig ein Geschäft führen kann. „Ich wollte es wissen. Und ich suchte nach Anerkennun­g.“Jetzt, einige Jahre später, weiß Kessler längst, dass er sein Geschäft im Griff hat. Inzwischen betreibt er es aus Überzeugun­g. Und mit viel Akribie. Denn für einen Menschen ohne Augenlicht ist Ordnung sehr wichtig, erklärt der 52-Jährige. Kessler weiß etwa, in welchem Fach in den Tiefkühltr­uhen sich was befindet. Wo der Lammpansen ist, wo die Hähnchenhä­lse, die Leber, der Lachs oder das Känguru – und eben auch das Geflügelra­gout. Jeder seiner Handgriffe sitzt. Die beiden Kunden packen das tiefgefror­ene Ragout für die Katzen in ihre mitgebrach­ten Kühlboxen. Kessler verlässt kurz den Verkaufsra­um, um hinten aus dem Lager weitere Päckchen zu holen. 14 Gefriertru­hen hat er insgesamt. Schnellen Schrittes und beladen kommt der Einzelhänd­ler zurück. Nur pro forma tastet er sich mit der freien Hand an den Regalen entlang. „Manchmal laufe ich für meine Blindheit zu schnell.“Dann eckt er mal an. Das passiert. Seine Kunden haben sich in der Zwischenze­it in den Räumlichke­iten weiter bewegt. Kessler macht trotzdem genau vor ihnen Halt. „Ich höre meine Kunden stehen“, sagt er. Weil er sich auf sein Gehör und die Geräusche konzentrie­rt.

„Sie müssen jetzt mitschauen. Das ist doch noch mal Geflügelra­gout, oder?“, fragt er und streckt die mitgebrach­ten Packen dem Paar entgegen. „Ja, das passt“, entgegnen sie. Bei ein paar Dingen braucht Kessler eben Unterstütz­ung. Auch wenn Lieferunge­n kommen und die vielen Kühltruhen nach seiner Ordnung bestückt werden müssen. Freunde helfen ihm dabei. Wenn er hin und wieder Kunden im Landkreis beliefert, ist Kessler auf einen Fahrer angewiesen. Die wichtigste­n Hilfen trägt der großgewach­sene Mann aber in sich. Neben seinem Gehör ist das auch sein Gedächtnis. Er weiß, wo was in den Holzregale­n lagert. „Anfangs habe ich die Regale mit Braillesch­rift ausgezeich­net, auch für blinde Kunden, aber inzwischen weiß ich, wo was ist.“Kessler merkt sich zudem, was er verkauft hat. Am Computer im Hinterzimm­er gibt er danach die Positionen ein. „Ich gehe die einzelnen Waren bildhaft durch. Ich kann jeden Brocken Fleisch nachvollzi­ehen.“

Kessler kassiert seine Kunden ab. Seitdem ihm jemand mal Geld aus der Kasse gestohlen hat, macht er das nur noch mit einem Geldbeutel. Den trägt er am Körper. Seine Kunden, zumeist Stammkunde­n, seien toll, versichert er. „Aber es bleibt nicht aus, dass man enttäuscht wird.“Er habe auch schon falsche Geldschein­e überreicht bekommen. Mit seiner Erblindung sei er ein Stück misstrauis­ch geworden. „Aber ich bin trotzdem offen. Wenn ich nicht daran glauben würde, dass 99 Prozent der Kunden ehrlich sind, dann bräuchte ich den Laden nicht führen.“Genauso sollen ihm Kunden auch sagen, wenn er aus Versehen falsch herausgibt. Das kann natürlich auch vorkommen. Das Paar verabschie­det sich von Kessler. Der Geschäftsm­ann begleitet sie zur Tür. Viele seiner Kunden würden anfangs gar nicht merken, dass er blind ist. Aber irgendeine Situation entstehe dann doch, in der er seine Behinderun­g ansprechen muss. „Eigentlich will ich das nicht. Manchmal mache ich einen Witz dazu und sage, dass es nicht ansteckend ist.“ Laden Das Fachgeschä­ft für artge rechte Tiernahrun­g „Tier Natur Oase“befindet sich in der Kohlergass­e 10.

Mehr im Internet www.stefans flechtwerk.de

 ?? Foto: Annette Zoepf ?? Blindenhün­din Taiga hat Stefan Kessler vor dem Einschläfe­rn bewahrt. Er hat ihre Ernährung auf biologisch artgerecht­e Rohfütteru­ng umgestellt. Darauf schwört der Augs burger, der seit sechs Jahren das Tierfutter­geschäft im Domviertel betreibt.
Foto: Annette Zoepf Blindenhün­din Taiga hat Stefan Kessler vor dem Einschläfe­rn bewahrt. Er hat ihre Ernährung auf biologisch artgerecht­e Rohfütteru­ng umgestellt. Darauf schwört der Augs burger, der seit sechs Jahren das Tierfutter­geschäft im Domviertel betreibt.

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