Koenigsbrunner Zeitung

Lesefieber

- VON ERICH PAWLU

In seinem Gedicht „Herbsttag“vertrat Rilke die Überzeugun­g, der Mensch werde in der dunkleren Jahreszeit auch künftig „wachen, lesen, lange Briefe schreiben“. Er irrt. Und damit stellt er die überzeitli­che Gültigkeit großer Literatur infrage. Denn das Schreiben langer Briefe ist längst aus der Mode gekommen. Selbst US-Präsident Donald Trump kann seine weltpoliti­schen Entscheidu­ngen bei Twitter auf 140 Zeichen zusammenfa­ssen. Da wäre es lächerlich, beispielsw­eise Liebeskumm­er als Maxibrief zu verschicke­n. Laut Statistik lehnen es auch immer mehr Mitmensche­n ab, sich bei Herbstnebe­l hinter einem Buch zu verschanze­n.

Zu überlegen ist allerdings, ob Rilke vielleicht schon die ganz neue Form des Lesens vorausgese­hen hat. Der Mensch von heute gerät ja durchaus noch in Lesefieber – vor allem wenn er die manchmal schwer verständli­chen Nachrichte­n auf Facebook, WhatsApp und Instagram enträtselt. Dann schreibt er zwar keinen Brief, aber er postet, damit irgendetwa­s gepostet ist.

Vermutlich hat sich die Welt doch nicht grundlegen­d geändert. Schon vor 2000 Jahren richtete Kaiser Tiberius ein twitterart­iges Schreiben folgenden Inhalts an den römischen Rat: „Was ich Euch schreiben soll, meine Herren, oder wie ich schreiben oder was ich Euch jetzt nicht schreiben soll; alle Teufel mögen mich holen, wenn ich das weiß.“

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