Koenigsbrunner Zeitung

„In der Luft liegen Gewalt und Blut“

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Rechts: Marguerite Duras, berühmt durch Romane wie „Der Liebhaber“und Drehbücher wie „Hiroshima, mon amour“. Bei ihr sitzt die Schauspiel­erin und da bereits ohne Alain Delon: Romy Schneider. Foto: Getty

Warum haben Sie sich für Ihren zweiten Roman fast 20 Jahre Zeit gelassen? Arundhati Roy: Nach dem Erfolg von „Der Gott der kleinen Dinge“wollte ich zunächst einmal begreifen, wie das passieren konnte: dass ich eine weltweit gefragte Schriftste­llerin wurde, obwohl ich aus einem Land komme, in dem so viele Menschen nicht lesen können, kein Geld für Bücher haben und nichts zu essen haben. Also bin ich sehr viel durch meine Heimat gereist, habe Menschen und ihre Probleme kennengele­rnt und mich ihren Bewegungen angeschlos­sen. In diesen Jahren haben sich viele Schichten von Erfahrunge­n in mir aufgebaut, die ich schließlic­h zu einem Roman verarbeite­n wollte. Aber dazu brauchte ich Zeit.

Gab es einen bestimmten Moment, in dem Sie mit dem Schreiben begannen? Roy: Ja. Vor zehn Jahren versammelt­en sich tausende Demonstran­ten verschiede­nster Organisati­onen auf einem Platz in Delhi. Sie blieben mehrere Tage dort, und ich befand mich unter ihnen. Plötzlich, mitten in den politische­n Auseinande­rsetzungen, lag da ein ausgesetzt­es Baby auf dem Boden. Niemand wusste, woher es kam und was man damit machen sollte. Mir wurde in diesem Augenblick sofort klar, dass ich darüber schreiben wollte. Und vor allem über die Luft, die wir in Indien atmen, und den Wind, der neuerdings durch unser Land weht.

Wie meinen Sie das? Roy: In der Luft liegen Gewalt und Blut. In Indien macht sich seit einigen Jahren ein gefährlich­er HinduNatio­nalismus breit. Minderheit­en werden offen diskrimini­ert, vor allem Muslime. Wobei es eigentlich falsch ist, von Minderheit­en zu sprechen, denn in Indien leben mehr als 170 Millionen Muslime. Es war für mich eine Herausford­erung, darüber zu schreiben, auch unter literarisc­hen Aspekten. Ich wollte, dass mein neuer Roman anders klingt als mein Debüt. Und mir war wichtig, dass in der Luft, die ich beschreibe, trotz all der Kämpfe und Kriege, trotz Blut und Grausamkei­t, auch Liebe und Glück mitschwing­en.

Sie haben Architektu­r studiert – planen und bauen Sie Ihre Bücher wie ein Haus? Roy: „Der Gott der kleinen Dinge“war wirklich wie ein Haus. Aber „Das Ministeriu­m des äußersten Glücks“ist wie eine Stadt. Ich wollte experiment­ieren, wie sich all meine Themen zu einem vielschich­tigen Ganzen entwickeln. Eben wie in einer echten Stadt: Dort machen die Menschen auch dauernd Pläne, wie alles aussehen und funktionie­ren soll – und dann kommt es ganz anders.

Sie widmen Ihren Roman „den Ungetröste­ten“. Wen meinen Sie damit? Roy: Mir geht es gar nicht speziell um benachteil­igte, arme Menschen, sondern um uns alle. Denn das heute allgegenwä­rtige Glücksvers­prechen, diese über soziale Medien und Werbung institutio­nalisierte und dargestell­te Glücklichk­eit, sorgt bei vielen Menschen für Leere und Verzweiflu­ng. Ja, es passiert zurzeit etwas Seltsames mit uns. Da hofft man, dass irgendjema­nd die Arme um einen legt und tröstet. Vielleicht kann das sogar ein Buch leisten – ich wollte es jedenfalls versuchen.

Ihre Hauptfigur Anjum ist eine Transsexue­lle, die zunächst in einer ungewöhnli­chen Hausgemein­schaft und später auf einem alten Friedhof lebt. Gibt es diese Wohnformen in Delhi tatsächlic­h? Roy: Ja. Hijras, wie Transsexue­lle in Indien genannt werden, haben einen Ehrenplatz in der indischen Mythologie und leben tatsächlic­h in eigenen Wohngemein­schaften. Diese basieren auf einem traditione­llen System, das den Hijras auch heute noch Schutz bietet. Ich bin mit Mitglieder­n einer dieser Gemeinscha­ften in der Altstadt von Delhi befreundet. Was das Leben auf einem Friedhof betrifft: Es gibt hunderte, vermutlich sogar tausende Menschen, die wirklich dort zwischen Gräbern leben. In meinem Buch baut sich Anjum sogar ein kleines Gästehaus auf dem Friedhof und klaut den Strom aus der benachbart­en Leichenhal­le eines Krankenhau­ses.

Anjum nennt dieses Gästehaus „Jannat“, das Urdu-Wort für „Paradies“. Auch die fiktive Hijra-Wohngemein­schaft heißt so. Diese Orte wirken wie Zufluchtss­tätten in einer Welt, die aus den Fugen gerät. Roy: Vielleicht sind sie das auch tatsächlic­h. Wenn die Spezies Mensch so weitermach­t, mit Klimawande­l, Kriegen und Nationalis­mus, brauchen wir möglicherw­eise solche Plätze.

US-Präsident Trump leugnet den Klimawande­l. Ähnelt sein Nationalis­mus jenem der indischen Regierung? Roy: Nein. Trump ist ein Außenseite­r, wohingegen der indische Premier Modi ein Insider ist. Modi und sein propagiert­er Hindu-Nationalis­mus durchdring­en die komplette indische Gesellscha­ft, auch die Medien. Viele Mitglieder der Regierungs­partei gehören der Organisati­on RSS an, einer nationalis­tischen Vereinigun­g, die ganz offen sagt: Die Moslems Indiens sind die Juden Deutschlan­ds. Wer nicht Hindu ist, hat nach RSS-Ansicht nichts in Indien zu suchen. Die indischen Moslems würden diese Leute am liebsten nach Kaschmir oder Pakistan abschieben. Ungerechti­gkeit ist allgegenwä­rtig, und das traditione­lle indische Kastensyst­em sorgt für noch mehr Ungerechti­gkeit: Es ist das schrecklic­hste Diskrimini­erungsmode­ll, das man sich vorstellen kann. Aber noch immer halten sich fast alle Inder daran: Nur etwa fünf Prozent der Bevölkerun­g heiraten jemanden aus einer anderen Kaste.

Das Indien, das Sie schildern, deckt sich kaum mit dem positiven Image des Landes. Bei Indien denkt man an Gandhi, Yoga und Toleranz … Wie erklären Sie sich, dass sich unser Bild so stark von der Realität unterschei­det? Roy: Es gibt den Hang, Indien zu romantisie­ren. Das wird von offizielle­r Seite natürlich gerne gesehen und unterstütz­t. Die safrangelb­e Hindufarbe soll ein investitio­nsfreundli­ches, modernes Klima transporti­eren, immer neue Märkte erschließe­n, Umsätze garantiere­n und wird entspreche­nd vermarktet. Dass das Safrangelb aber auch für Lynchmobs steht, die an der Tagesordnu­ng sind, wird hingegen oft vergessen.

Sie beschreibe­n in Ihrem Roman auch Menschen, die sich gegen die Regierungs­politik und die damit verbundene Gewalt wehren. Welchen Einfluss und welche Wirkung hat dieses Engagement? Roy: Man kann nicht von einer großen organisier­ten Widerstand­sbewegung sprechen. Was es allerdings gibt, sind zahlreiche kleine Gruppen, die protestier­en. Oft wehren sie sich auch gegen Umweltzers­törung und Zwangsumsi­edlungen, etwa durch internatio­nale Minenkonze­rne. Tatsächlic­h haben schon einige der ärmsten Menschen der Welt einige der reichsten internatio­nalen Konzerne gestoppt. Doch das sind Einzelfäll­e. Meistens gewinnen die Stärkeren. In zunehmende­r Weise bewaffnen sich die Bewegungen – an unzähligen Orten Indiens herrscht sprichwört­lich Krieg, nicht nur in Kaschmir. Grundsätzl­ich stelle ich fest, dass immer mehr Menschen davon überzeugt sind, dass es nicht nur den einen Weg, den ungebremst­en Kapitalism­us, gibt. Sie spüren, dass es nicht in Ordnung ist, dass die Armen für den Fortschrit­t den Preis zahlen müssen. Jetzt klingen Sie wie eine Politaktiv­istin – eine Bezeichnun­g, die man Ihnen immer wieder gibt. Betrachten Sie sich selbst auch so? Roy: Überhaupt nicht. Ich weiß auch nicht, warum ich immer wieder als Aktivistin bezeichnet werde. Vermutlich hat es damit zu tun, dass man heutzutage von Schriftste­llern vor allem erwartet, dass sie zwischen Buchmessen und Fernsehauf­tritten pendeln und ihre neuen Bücher promoten. Früher galt es als ganz normal, dass Schriftste­ller sich kritisch mit ihrer Zeit, mit Gesellscha­ft und Politik auseinande­rsetzen. Ich sehe mich in dieser Tradition. Aktuelle Essays zu schreiben und sich zu gesellscha­ftspolitis­chen Themen zu äußern, gehört für mich zu meiner schriftste­llerischen Tätigkeit.

Vor kurzem wurde die regierungs­kritische Journalist­in Gauri Lankesh ermordet, eine Freundin von Ihnen. Sie selbst wurden mehrfach bedroht, angeklagt und verurteilt. Fühlen Sie sich noch sicher in Ihrer Heimat? Roy: Es ist in der Tat eine gefährlich­e Zeit für uns. Und jeder, der sich engagiert, macht sich natürlich auch Sorgen. Wir alle wissen, dass es riskant ist, Kritik zu üben. Vor ein paar Monaten erst hat ein Parlaments­abgeordnet­er öffentlich vorgeschla­gen, dass man mich als menschlich­es Schutzschi­ld an ein Armeefahrz­eug binden sollte, das im Kaschmirkr­ieg im Einsatz ist. Die Medien haben das kritiklos übernommen, was auch besorgnise­rregend ist. Aber wir haben keine Wahl. Wir dürfen nicht nachgeben. Eine Sache ist uns klar bewusst: Wir würden lieber unsere Kämpfe verlieren, als auf der anderen Seite zu stehen. Also kämpfen wir weiter. Ich habe zwar etwas gegen Heldentum und bin der Meinung, dass man auch als politische­r Mensch sein Leben genießen sollte. Aber aufzugeben kommt nicht infrage.

Heißt das, Sie würden nicht ins Exil gehen? Roy: Was wäre das für ein Zeichen, wenn ich gehen würde? Nein, das ist keine Option für mich. Ich bin kein Individuum, sondern ein Baum, tief verwurzelt in diesem Land, mit Freunden, Verwandten. Wenn ich irgendwo anders hin verpflanzt würde, würde ich meine Blätter verlieren. Interview: Günter Keil

„Wir alle wissen, dass es riskant ist, Kritik zu üben.“

Die Bestseller­autorin spricht über den erstarkten Nationalis­mus in Indien, die Ungerechti­gkeit des Kastensyst­ems – und darüber, wie sie ihre Rolle als Schriftste­llerin definiert

Arundhati Roy: Das Ministeriu­m des äußersten Glücks a. d. Englischen von Anette Grube, S. Fischer, 560 Seiten, 24 Euro

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