Und dann kam Lenin
Ein Porträt zum Revolutions-Jubiläum
Warum sollte man sich heute noch mit historischen Figuren wie der Lenins befassen? Einfach weil sich gerade jetzt doch mit der für den Verlauf des 20. Jahrhunderts bedeutenden russischen Oktoberrevolution sein großer Auftritt in der Weltgeschichte zum 100. Mal jährt? Weil es immer wieder interessante Details an solchen Figuren zu entdecken gibt, bizarre und süffige?
Etwa: Dass Lenin ja eigentlich in München geboren wurde, im Alter von 31 Jahren, wo er unter dem Namen Willem Meyer untergetaucht war, weil ihn die Geheimpolizei des Zaren unter seinem Geburtsnamen Wladimir Uljanow suchte, dann aber unter dem neuen Decknamen „N. Lenin“seine Schrift „Was tun?“veröffentlichte, die ihn unter den Revolutionären endgültig zu einer zentralen, wenn auch umstrittenen Figur machte. Oder: Dass der große Durchbruch der Revolution am 25. Oktober 1917 eigentlich eine irrwitzige Inszenierung war, die Lenin – Fake News! – als Sieg verkaufte, als seine Feinde noch in Ruhe im Winterpalast tafelten und seine Mitstreiter sich unfähig zeigten, die zum Sturm nötigen Kanonen in Gang zu bringen – für die einen gab es keine Munition, die anderen hätten geputzt werden müssen. Oder: dass der Herr über lange Jahre eine offene, gut gelingende Dreiecksbeziehung pflegte, mit seiner Frau Nadja und seiner Geliebten Inessa, die einander schätzten und Lenin wohl als Einzige außer seiner Mutter kritisieren durften – von Männern akzeptierte er das nie …
Natürlich lässt sich all das aus der neuen, umfangreichen Biografie des renommierten ungarisch-britischen Historikers Victor Sebestyen auch reichlich ziehen. Aber bedeutend ist „Lenin – Ein Leben“durch dieses besondere Spannungsverhältnis zwischen Zufall und Bedeutung, das hier augenfällig wird: Ein eigentlich völlig unpolitischer, vielmehr literarischer Mensch wurde „einer der größten Rebellen der Geschichte“; er baute seinen Geheimdienst Tscheka exakt nach dem Vorbild der politischen Polizei Ochrana auf, die ihn verfolgt hatte; am zweiten Tag seiner Herrschaft führte er die Zensur wieder ein, gegen die er zuvor so gekämpft hatte; den letzten Zaren hat er als Tyrannen exekutieren lassen, den Tyrannen Stalin hat er als Nachfolger zumindest nicht verhindert; und trotzdem besitzt er bis heute Strahlkraft.
Wie es also dazu kam? Sein Vater wurde als vorbildlicher Schulrat vom vorletzten, relativ liberalen Zaren noch in den Erbadel erhoben. Sein Bruder aber wurde von dessen extrem reaktionärem Nachfolger nach einem versuchten Attentat hingerichtet. Von da an begann sich der eigenbrötlerische, vergeistigte Wladimir Uljanow zu verwandeln. Und er tat es noch mehr, weil die Sippenhaft nach dem Brudertod ihm als glänzenden Schüler alle Aufstiegswege zu verstellen schien. Er wurde schließlich zu Lenin, traf immer mehr Gleichgesinnte, wollte den Umsturz, wollte nur noch die Macht. Sebestyen schreibt: „Nachdem Lenin die Macht übernommen hatte, galt seine einzige echte Sorge für den Rest seines Lebens der Bewahrung der Macht – ein Wahn, den er seinen Nachfolgern vermachte. Während ihrer gesamten Existenz identifizierte sich die Sowjetunion mit ihrem Staatsgründer. Sie wurde weitgehend durch seine Persönlichkeit geprägt: heimlichtuerisch, misstrauisch, intolerant, asketisch, unbeherrscht. Die anständigen Seiten seines Charakters hielten keinen Einzug in die öffentliche Sphäre seiner Sowjetunion.“
Insofern liegt auch nahe, was es für Autor Victor Sebestyen bedeutet, dass Wladimir Putin im Jahr 2011 Millionen dafür bewilligte, das einsturzgefährdete Mausoleum in Moskau instand setzen zu lassen, in dem Lenins Leichnam bis heute aufgebahrt liegt.