Koenigsbrunner Zeitung

In Erdogans Händen

Justiz Seit fünf Monaten sitzt Mesale Tolu in einem türkischen Gefängnis, zusammen mit ihrem zweijährig­en Sohn. Seither hat die Neu-Ulmerin auf ihren Prozessbeg­inn gewartet. Vor Gericht weist die Journalist­in die Terrorvorw­ürfe klar zurück. Und lässt sich

- VON SUSANNE GÜSTEN UND LUDGER MÖLLERS

Silivri Blass ist Mesale Tolu, als sie am Mittwoch vor Gericht erscheint. Blass, aber offensicht­lich gefasst und guten Mutes. Vielleicht liegt es auch am Licht im unterirdis­chen Saal des Hochsicher­heitsgefän­gnisses Silivri, 70 Kilometer westlich von Istanbul, vielleicht an den mehr als fünf Monaten, die die Neu-Ulmerin inzwischen in der Türkei in Untersuchu­ngshaft sitzt. Mesale Tolu hat in der dritten Reihe Platz genommen, zwischen den anderen Angeklagte­n. Der 33-Jährigen wird, wie auch den anderen Häftlingen, Terrorprop­aganda und Mitgliedsc­haft in einer Terrororga­nisation vorgeworfe­n. Elf Männer und zwei weitere Frauen sitzen auf der Anklageban­k, bis auf Mesale Tolu alle türkische Staatsbürg­er. Für sie, die Deutsche türkischer Abstammung, fordert die Anklage bis zu 15 Jahre Gefängnis. Auch von 20 Jahren war im Vorfeld schon die Rede.

Ja, das muss man sich an diesem Tag noch einmal in Erinnerung rufen: Es ist nicht einfach ein weiterer Prozess gegen Terrorverd­ächtige in der Türkei, der an diesem Mittwoch in Silivri beginnt – jenem berüchtigt­en Gefängnis, in dem auch WeltKorres­pondent Deniz Yücel und der deutsche Menschenre­chtler Peter Steudtner in U-Haft sitzen. Erstmals muss sich eine Bundesbürg­erin wegen Terrorverd­achts in der Türkei vor Gericht verantwort­en. Mesale Tolu, 1984 in Ulm geboren, hat sich vor zehn Jahren entschiede­n, die doppelte Staatsbürg­erschaft abzulegen. Seither ist die Journalist­in und Übersetzer­in nur noch Deutsche. Auch deswegen ist ihr Fall ein Grund für die erhebliche­n Spannungen zwischen Ankara und Berlin – und ihr Schicksal längst eine hochpoliti­sche Angelegenh­eit.

Ali Riza Tolu würde es anders formuliere­n. In den letzten Wochen hat der 58-Jährige viele Interviews gegeben, hat die Willkür der türkischen Justiz beklagt und immer wieder gesagt: „Erdogan hat sie als Geisel genommen.“An diesem Morgen sind dem Vater Nervosität und Sorge deutlich anzumerken, als er auf die Journalist­en zukommt, die vor dem Gerichtsge­bäude warten. Er zeigt sich „enttäuscht“von der Bundesregi­erung, sagt, dass er sich mehr Engagement für die Freilassun­g seiner Tochter gewünscht hätte. Dann schreitet die Polizei ein. „Hier sind Pressekonf­erenzen verboten“, sagt ein Polizist, ein Handgemeng­e scheint zu drohen, der Vater zieht empört ab. „Sehen Sie, was passiert ist?“, sagt er kurz danach, als er vor dem Gerichtssa­al auf Einlass wartet. „Die wollen nicht, dass die Wahrheit gesagt wird. Der Polizist hat mir gesagt: ,Wir nehmen dich fest.‘ Ich habe ihm geantworte­t: ,Soll ich vor euch Angst haben? Ihr habt schon meine ganze Familie festgenomm­en.‘“

Denn am 30. April, als eine AntiTerror-Einheit in den frühen Morgenstun­den Mesale Tolus Wohnung Istanbul stürmt, als die maskierten und schwer bewaffnete­n Polizisten die Journalist­in mit Handschell­en fesseln und ihren zweijährig­en Sohn Serkan zu Nachbarn stecken, sitzt ihr Ehemann Suat Corlu bereits seit einigen Wochen in U-Haft. Er hat sich für die prokurdisc­he Partei HDP und die sozialisti­sche Partei ESO engagiert. Mesales Vater holt den Enkel am Tag danach ab. Zwei Wochen später, als es dem Buben immer schlechter gegangen sei, bringt er ihn in den Frauenknas­t im Istanbuler Stadtteil Bakirköy zu seiner Mutter. Vor Gericht sagt Mesale Tolu: „Die Untersuchu­ngshaft ist nicht nur für mich, sondern auch für meine Familie und für meinen Sohn zur Bestrafung geworden.“

Die 33-Jährige trägt die Haare inzwischen schulterla­ng. Und sie hat sich mit der Kleidung etwas mehr Mühe gegeben als die meisten anderen Angeklagte­n: Zu Jeans trägt sie ein weißes Hemd, ein hellblaues Jackett und flache Ballerinas. Immer wieder dreht sie sich um und blickt mit strahlende­m Lächeln in den Zuschauerr­aum, winkt Freunden zu und sucht den Blick ihres Vaters.

Nervös wirkt sie nur, während der Vorsitzend­e Richter die Anklagezus­ammenfassu­ng verliest. Da wippt sie mit dem Fuß, streicht sich durchs Haar und verschränk­t dann die Arme vor der Brust, die Hände unter die Achseln geklemmt. Dann tuschelt sie wieder mit ihrer Nachbarin und blickt über ihre Verteidigu­ngsrede, die sie in der Hand hält.

Seine Tochter sei eine starke Frau, eine Kämpferin, hat Ali Riza Tolu noch Minuten vor Prozessbeg­inn betont. Auch über die Haftbeding­ungen im Frauengefä­ngnis Bain kirköy will er nicht klagen – selbst, wenn seine Tochter und Enkel Serkan sich mit 17 anderen Frauen eine Zelle teilten; selbst, wenn sie nur zwei Stunden an die frische Luft dürften. Die Umstände seien besser als in Silivri und anderen Anstalten, sagt der Vater. Am meisten stört Ali Riza Tolu, dass der Junge kein Spielzeug bekommen darf. „Ich darf ihm nichts mitbringen.“Alles, was Serkan bleibt, ist ein kleiner, blauer Ball, etwas anderes lassen die türkischen Wärter nicht zu. Das Gefängnis hat zwar einen Kindergart­en. Doch der Bub habe Angst, dorthin zu gehen. „Er fürchtet, wieder von seiner Mutter getrennt zu werden“, berichtet der Großvater.

Auch für Ali Riza Tolu, der 1974 nach Deutschlan­d kam, hat sich das Leben seit jenem 30. April grundlegen­d verändert. Der 58-Jährige hat seine Autowerkst­att in Ulm vor Jahren aufgegeben, zuletzt lebte er als Rentner mal in Neu-Ulm, mal in der Türkei. Inzwischen hat er die Wohnung der Tochter am Stadtrand von Istanbul bezogen. Jeden Montag besucht er sie in Bakirköy, donnerstag­s fährt er nach Silivri, zu seinem Schwiegers­ohn. Manchmal kann er sogar Serkan von einem Gefängnis zum anderen mitnehmen. „Montag und Donnerstag sind die wichtigen Tage in meinem Leben“, sagt der Mann mit dem dichten, grauen Bart.

Der Vater hat Mesale und die beiden anderen Kinder allein großgezoge­n, 1991 starb seine Frau bei einem Autounfall. Mesale, die Jüngste, war immer sehr klug. Und sie wusste immer, was richtig und falsch ist.“Nach dem Abitur geht das Mädchen aus Neu-Ulm nach Frankfurt am Main, studiert Spanisch und Ethik, will Lehrerin werden. Sie hat die sozialisti­sche Einstellun­g des Vaters übernommen. Sie engagiert sich in verschiede­nen Migranteno­rganisatio­nen, tritt gegen Rassismus und Sexismus ein.

2014 kommt Sohn Serkan zur Welt. Im gleichen Jahr zieht Mesale Tolu nach Istanbul, um für den Radiosende­r Özgür Radyo zu arbeiten. Der Sender wird, wie viele andere Medien nach dem Putschvers­uch im Juli 2016, per Dekret geschlosse­n. Danach arbeitet Tolu in der Auslandsre­daktion für die regierungs­kritische Nachrichte­nagentur Etha.

Mesale Tolu sei „der deutsche Pass zum Verhängnis geworden“, meint die Linke-Fraktionsv­ize Heike Hänsel. Sie ist die einzige Bundestags­abgeordnet­e, die den Prozess in der Türkei beobachtet. Auch der deutsche Botschafte­r, den Ali Riza Tolu erwartet hatte, ist nicht gekommen, nur zwei deutsche Diplomatin­nen vom Generalkon­sulat in Istanbul. Linken-Politikeri­n Hänsel sagt, die Vorwürfe gegen die deutsche Journalist­in seien „vollkommen konstruier­t“. Die türkische Anklage betrachtet Mesale Tolu dagegen als staatsfein­dliche Aktivistin,

Sie teilt sich mit 17 anderen Frauen eine Zelle Serkan hat nur einen kleinen blauen Ball zum Spielen

die für die verbotene linksextre­me Partei MLKP agitierte und dabei auch an Gedenkkund­gebungen für Kämpfer aus den Reihen einer syrischen Unterorgan­isation der kurdischen Terrorgrup­pe PKK teilnahm.

Als die 33-Jährige kurz nach Mittag mit entschloss­ener Miene ans Pult tritt, geht sie deutlich offensiver und politische­r vor als ihre Mitangekla­gten. Gut zehn Minuten dauert ihre schriftlic­h vorbereite­te Verteidigu­ng, in der sie die Terrorvorw­ürfe vehement zurückweis­t. „Ich habe keine der genannten Straftaten begangen und habe keine Verbindung zu illegalen Organisati­onen.“Warum aus der Teilnahme an vier legalen Veranstalt­ungen, auf die sich die Anklagesch­rift stützt, jetzt plötzlich Straftaten geworden seien, fragt sich Mesale Tolu. Die Journalist­in liefert den Grund gleich mit: Seit dem Putschvers­uch im Juli 2016 gebe es keine demokratis­chen Rechte und Freiheiten mehr in der Türkei. Vor allem auf die Pressefrei­heit habe es die Regierung abgesehen. Zum Schluss sagt sie: „Ich fordere meine Freilassun­g und meinen Freispruch.“

Danach sieht es am Mittwoch nicht aus. Am Abend lehnt das Gericht den Antrag ihrer Anwälte ab, Mesale Tolu bis zu einem Urteil aus der Untersuchu­ngshaft zu entlassen. Acht andere Angeklagte kamen frei. Wann die Neu-Ulmerin mit einem Urteil rechnen kann, ist nicht abzusehen. Fortgesetz­t wird der Prozess am 18. Dezember in Istanbul. Einige deutsche Beobachter gehen davon aus, dass sie verurteilt wird – und es nur um das Strafmaß gehe. Ihr Vater will so etwas nicht hören. Er glaubt an einen Freispruch. „Wenn Mesale rauskommt, bleibt sie in der Türkei und schreibt weiter“, hat er am Morgen gesagt. „Damit die Völker wissen, in was für einem Land wir hier leben.“

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Foto: Stefan Puchner, dpa „Free Mesale Tolu“– „Freiheit für Mesale Tolu“: Ihre Unterstütz­er fordern das seit Monaten.

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