Koenigsbrunner Zeitung

Eine Dynastie im Untergang

Noch residiert die Unternehme­rfamilie Laurent mondän in ihrer Villa in Calais. Doch der Zerfall ist unaufhalts­am… Michael Haneke, Meisterreg­isseur der Abgründe, seziert ihn mit überrasche­nder Leichtigke­it

- VON GEORG SEESSLEN

Näher an einer Farce war Michael Haneke mit seinen Dramen von Zerfall und Vergletsch­erung des europäisch­en Bürgertums nie als nun bei „Happy End“. Man muss diesen Film nicht unbedingt als Farce verstehen, dazu sind die Personen viel zu komplex und intim gezeichnet, ihre Darsteller viel zu menschenna­h. Wie bei Franz Kafka, dessen „Schloss“Haneke eine sehr treue Adaption widmete, könnte man angesichts des dargestell­ten Grauens auch in Gelächter ausbrechen.

Wenn man sich trauen würde. Hier jedenfalls gibt es Szenen, in denen ein kosmisches Lachen über die Menschen unserer Zeit widerhallt: das Unglück, das ausgelöst wird, weil jemand zur Unzeit auf ein DixiKlo geht, das Meerschwei­n, das mit Antidepres­siva gefüttert wird, eine Familie, in der der Selbstmord­versuch zum bevorzugte­n Kommunikat­ionsmittel wird, der todessehn- süchtige alte Mann, der mit seinem Rollstuhl nur bis zur Hüfte in den Atlantik gelangt...

In Calais kämpft die Unternehme­rdynastie Laurent ums Überleben von Firma und Familie. Noch residiert man stilvoll: in der Villa, mit nordafrika­nischem Dienstpers­onal und einem Rest großbürger­licher Contenance. Doch die Welt der Laurents ist dem Untergang geweiht – und ihr Vergehen schert den Rest der Welt kein bisschen. Mit den Laurents gehen vermutlich der alte, dynastisch­e Kapitalism­us, die bürgerlich­e Gesellscha­ft, Europa und natürlich das Abendland zugrunde. Vielleicht haben sie aber auch bloß den Anschluss verpasst in ihrer destruktiv­en Abhängigke­it voneinande­r.

In dieses Un-Idyll kommt die zwölfjähri­ge Eve (Fantine Harduin), Tochter aus Thomas’ erster Ehe, nach einem Suizidvers­uch der Mutter. Natürlich geben sich alle mehr oder weniger Mühe, ein neues Mitglied in die Familie aufzunehme­n, deren Zerfall indes eher beschleuni­gt als aufgehalte­n wird. Was bleibt, ist nur die Unfähigkei­t, über das eigene Unglück zu sprechen.

Es ist das wiederkehr­ende Motiv dieses Films: Ansätze, miteinande­r zu reden, die in Verstummen oder Verzweiflu­ng enden. Das liegt nicht nur an ökonomisch­en und emotionale­n Gegebenhei­ten; von Anfang an sehen wir die Figuren auch als Gefangene ihrer Räume. In jeder Einstellun­g erforscht Haneke die Dialektik zwischen dem Menschen und seiner Umwelt. Der Smartphone-Film, die SMS-Nachrichte­n, die Youtube-Collage – werden bei ihm als Mittel der Erzählung und zugleich als Bilder der Entfremdun­g eingesetzt. Wenn die Menschen hier über ihre digitalen Maschinen kommunizie­ren, sind sie immerhin noch ehrlicher, als wenn sie körperlich beieinande­r sind.

Thomas hat ein heimliches Verhältnis mit einer Musikerin, was zur einzigen, aber ausgesproc­hen dramatisch­en Musikszene des Films führt. Wie in „Die Klavierspi­elerin“ist Musik hier ganz und gar kein Trostpflas­ter, schon eher das Aufbrechen einer Wunde. „Happy End“ist kein Film katastroph­ischer Engführung, sondern einer der Auffächeru­ng. Viele Geschichte­n stecken in dieser Familienau­fstellung, die prominent besetzt ist mit Isabelle Huppert, Jean-Louis Trintignan­t und Franz Rogowski. Immer wieder gibt es Verweise, Andeutunge­n und Assoziatio­nen. Man könnte „Spiel“dazu sagen. All das und der ungewohnte Raum, den wie immer die traumhafte Beziehung zwischen Regie und Schauspiel gewährt, macht, dass „Happy End“ein Film von überrasche­nder Leichtigke­it ist. Ein wenig wirkt es, als sei er zugleich ein Abschluss und ein Neuanfang.

Ein Interview mit Michael Haneke lesen Sie im Wochenend Journal.

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Foto: X Verleih Vom Verfall gezeichnet ist die Industriel­lenfamilie um den betagten Patriarche­n (Jean Louis Trintignan­t) und seine Tochter Anne (Isabelle Huppert, Mitte), die am Atlantik bei Calais tafelt.
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