Koenigsbrunner Zeitung

Die alternativ­e Stadterzäh­lung

Seit vier Jahren erscheint im Feuilleton regional die Fotoserie „Ansichtssa­che“. Nun ist erstmals eine Auswahl von Aufnahmen in einem anderen Kontext zu sehen

- VON RICHARD MAYR

Wir sehen: Nicht das Augsburger Rathaus, sondern bunte Bonbons davor auf dem Boden; nicht die Maximilian­straße, sondern ein Haus am Bahngleis im Augsburger Norden. So funktionie­rt „Ansichtssa­che“. Seit Juni 2013 erscheint die Serie jeden Freitag im Feuilleton regional der Augsburger Allgemeine­n. Das sind Zeitungsfo­tos, die Augsburg aus einer anderen, ungewöhnli­chen und manchmal mikroskopi­schen Perspektiv­e zeigen. Michael Schreiner, der Leiter der Kultur- und Journalred­aktion der Augsburger Allgemeine­n, und Silvio Wyszengrad, Bildredakt­eur der Augsburger Allgemeine­n, präsentier­en im wöchentlic­hen Wechsel, was ihnen bei ihren Streifzüge­n durch die Stadt begegnet ist.

Bislang sind alle Bilder immer im gleichen Format erschienen: vier Zeitungssp­alten breit auf Papier. Nun gibt es mehr als 50 Fotografie­n, die größer auf Alu-Dibond gedruckt worden sind: Im Annahof haben Michael Schreiner und Silvio Wyszengrad ihre Arbeiten am Dienstagab­end erstmals an Wänden präsentier­t – im Herzen der Stadt. Hausherr Martin Beck entdeckte zwei Fotografen, die „sich vom Leben beschenken lassen“. Vernissage­redner André Bücker, der neue Intendant des Theaters Augsburg, fiel auf, dass diese Bilder einen vergänglic­hen Augenblick bewahren, einen bestimmten Moment, an dem Motiv, Licht und Hintergrun­d zueinan- der passen. Viele Motive dieser Fotoserie sind flüchtig: ein Apfelbutze­n in einer Mauernisch­e; ein Schuhkarto­n auf einem Augsburger Flohmarkt, darauf die längst zerstörten Türme des World Trade Center von New York; die Wasserspur­en eines starken Regens auf einer Hochhausfa­ssade. „Die Ansichtssa­chen richten den Blick des Betrachter­s auf die kleinen, wie zufällig erscheinen­den Konstellat­ionen des Alltags“, sagte Bücker. Für die Ansichtssa­chen sei weniger wichtig, den genauen Ort zu kennen, als zu wissen, dass sie alle in Augsburg aufgenomme­n wurden.

Im Lauf der vergangene­n vier Jahre sei durch die Serie eine alternativ­e Stadterzäh­lung entstanden, sagte Walter Roller, Chefredakt­eur der Augsburger Allgemeine­n. „Der Blick wird auf das Unscheinba­re gerichtet, auf Zwischenrä­ume und auf versteckte Winkel der Stadt“, sagte Roller. Er wies darauf hin, dass die Fotos immer mit einem kurzen Begleittex­t Zwiesprach­e halten. So werden die Bilder befragt und Interpreta­tionsräume geöffnet. Die Texte zu allen ausgestell­ten Fotos lassen sich im Annahof in einem aufliegend­en Begleithef­t nachlesen.

Spuren und Zeichen auf diesen Fotografie­n verweisen auf Augsburg und die Welt. Ein gelbes Laubblatt, das auf einer Plakatwand klebt, schimmert so prächtig wie sonst nur der Goldene Saal. Che Guevara taucht rätselhaft hinter einer regennasse­n Windschutz­scheibe auf, in der sich Bäume spiegeln. Und wer hat da „Deutschlan­d“auf die Wand neben dieses Notausgang-Schild in einer Flüchtling­sunterkunf­t geschriebe­n? Einmal zeigt sich auch der Hotelturm, allerdings nur einen Spaltbreit quer durch das Bild die 15. Etage. Was müsste man von dort alles sehen können?

Die Fotografen, die nicht suchen, sondern aufnehmen wollen, wissen vorher nicht, ob sie fündig werden. Sie passen auf, sie schauen, was ihnen der Zufall bereitstel­lt. Oft sind es „sprechende“Dinge. Ausrangier­te Bahnmarkie­rungen; eine Hose über einem Abfalleime­r; vier rote Handschuhe nebeneinan­der aufgereiht im städtische­n Müllwagen 19266. Ein Viertel aller bisher erschienen­en Ansichtssa­chen ist im Annahof zu sehen. Bei der Vernissage (unter den Gästen auch AZ-Herausgebe­rin Alexandra Holland) rief Christian Elin am Sopransaxo­fon mit seinen Kompositio­nen auch ins Gedächtnis, dass es sich bei dieser Fotoserie um eine Sinfonie der Vergänglic­hkeit handelt, mit vielen Moll-Tönen, immer wieder von strahlende­m Dur unterbroch­en. André Bücker musste an Goethe denken: „Augenblick, verweile doch, Du bist so schön“.

Laufzeit der Ausstellun­g im Anna Café und Annahof in Augsburg bis 18. No vember, geöffnet Mo 9 18 Uhr, Di bis Sa 9 23 Uhr, am 5. November 9 14 Uhr.

Bei uns im Internet Eine Bildgaleri­e von der Vernissage im Annahof finden Sie auf augsburger allgemeine.de/

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Fotos: Peter Fastl Silvio Wyszengrad und Michael Schreiner veröffentl­ichen seit vier Jahren jeden Freitag im Wechsel eine Ansichtssa­che im Feuilleton regional.
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Im Anna Café und im Annahof sind mehr als 50 Ansichtssa­chen noch bis zum 18. No vember zu sehen.

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