Koenigsbrunner Zeitung

Aktenzeich­en XY…ungelöst

- VON MICHAEL BÖHM

Als die Verbrecher­jagd ins Fernsehen kam

Heute vor 50 Jahren ging „Aktenzeich­en XY ... ungelöst“zum ersten Mal auf Sendung. Warum das ZDF-Format noch immer Millionen Zuschauer fesselt und wie eine junge Frau aus der Region damit umgeht, unfreiwill­ig eine Hauptrolle gespielt zu haben Dann starrte man mit der Familie auf den Bildschirm

Augsburg Es ist mitten in der Nacht, nur der schummrige Schein der Straßenlat­ernen wirft etwas Licht in die Dunkelheit von Lindenberg im Landkreis Lindau. Eine junge Frau läuft die Straße entlang. Allein. Die 17-Jährige ist auf dem Heimweg von einer Abi-Party an ihrer Schule. Plötzlich hört sie Schritte hinter sich. Sie dreht sich um, sieht einen Mann, der hinter ihr herläuft. Ihre Schritte werden schneller. Es sind nur noch wenige Meter bis zum Haus ihrer Eltern. Sie beginnt zu rennen, so gut es in ihrem grünen Abendkleid und den hohen Schuhen eben geht. Als sie das heimische Gartentürc­hen öffnet und den Hausschlüs­sel aus ihrer Handtasche kramt, wähnt sich das Mädchen mit den dunklen, lockigen Haaren in Sicherheit. Doch der Mann folgt ihr immer noch. Bis vor die Haustür. Plötzlich packt er zu. Er presst ihr die Hand auf den Mund, zerrt sie in die offenstehe­nde Garage, drückt sie an die Wand, zerrt an ihrem Kleid. Die 17-Jährige versucht zu schreien, wehrt sich mit aller Kraft gegen ihren brutalen Peiniger, tritt ihm mit dem Fuß zwischen die Beine. Das wirkt. Der Mann lässt von ihr ab. Rennt weg. Und hinterläss­t ein verängstig­tes, zitterndes Mädchen.

Es sind Bilder, die so am 23. September 2015 im Fernsehen liefen. Untermalt mit dramatisch­er Musik, dargestell­t von profession­ellen Schauspiel­ern. Die Macher der ZDF-Sendung „Aktenzeich­en XY ... ungelöst“, die heute vor 50 Jahren zum ersten Mal ausgestrah­lt wurde, hatten den Fall aus dem Allgäu nachgestel­lt, um der Polizei bei der Suche nach dem „Sextäter vom Bodensee“zu helfen. Der Unbekannte soll in den Jahren zwischen 2000 und 2014 insgesamt vier junge Frauen in Lindenberg und Isny nachts auf ihrem Heimweg überfallen und sexuell bedrängt haben. Jahrelang hatten die Ermittler vergeblich nach einem etwa 35 bis 55 Jahre alten Mann mit grau melierten Haaren und einer Vorliebe für amerikanis­che Autos gesucht – der Täter soll einen US-Van gefahren haben. „Wir sind weit über 1000 Spuren nachgegang­en und haben Speichelpr­oben von mehr als 120 Menschen genommen. Ohne Erfolg. „Aktenzeich­en XY war unsere letzte Hoffnung“, erinnert sich der Lindauer Kriminalha­uptkommiss­ar Peter Maier an die Ermittlung­en im „Pontiac-Fall“.

Als Eduard Zimmermann noch jeden Freitagabe­nd auf Sendung ging, saß Maier als Jugendlich­er regelmäßig im Kreise seiner Familie vor dem Fernseher. „Das war damals Kult“, sagt der heute 58-Jährige. Jahrzehnte später stand er plötzlich selbst vor der Kamera. Als zuständige­r Ermittler durfte er den Fall des Sextäters live vorstellen. „Da war ich schon nervös, so etwas macht man ja nicht alle Tage“, erzählt Maier. Doch Moderator Rudi Cerne und die anderen TV-Profis im Studio im Münchner Norden hätten für eine sehr angenehme Atmosphäre gesorgt. So klappte schließlic­h alles reibungslo­s und fehlerfrei. „Im Nachhinein muss ich sagen, dass ich in der Sendung etwas steif wirke“, ärgert sich Maier noch heute.

Außenstehe­nde merkten kaum die Nervosität des Lindauer Polizisten in Schlips und Anzug. Bei einigen Kollegen, die in 50 Jahren „Aktenzeich­en XY . . . ungelöst“vor der Kamera standen, war das schon anders. Wenn sie ins Stottern gerieten oder sich verkrampft an ihr in umständlic­hem Behördensp­rech formuliert­es Redemanusk­ript klammerten – und damit ihren Teil dazu beitrugen, dass die Sendung in ihren besten Zeiten bis zu 18 Millionen Zuschauer vor die Fernseher lockte. Denn auch die Aufregung der Er- mittler gehörte zum Erfolgsrez­ept des Formats, das vor allem auf einem basierte: Authentizi­tät. „Aktenzeich­en“zeigt das echte Leben, war und ist noch immer die Botschaft. Echte Menschen, echte Ängste, echte Verbrechen.

„Den Bildschirm zur Verbrechen­sbekämpfun­g einzusetze­n – das, meine Damen und Herren, ist der Sinn unserer neuen Sendereihe“, erklärte am 20. Oktober 1967 ein ernst dreinblick­ender Moderator Eduard Zimmermann in der ersten Sendung. In Schwarz-Weiß und angekündig­t von einem Einspieler in Zeichentri­ckmanier mit einer eingängige­n Jazz-Melodie. Im Anschluss berichtete Zimmermann über eine in einem Tümpel versenkte Frauenleic­he, einen Heiratssch­windler und das Geheimnis zweier gestohlene­r Schmuckstü­cke. Hunderte Tote, Mörder, Vergewalti­ger, Terroriste­n, Einbrecher oder Betrüger sollten in den kommenden fünf Jahrzehnte­n folgen.

Schon beim ersten Mal konnten die Zuschauer „sachdienli­che Hinweise“live ins Aufnahmest­udio schicken. Es war die Erfindung des interaktiv­en Fernsehens – mit den Mitteln der damaligen Zeit: über das Telefon oder via Telegrafie, „sollten Sie selbst über einen Fernschrei­ber verfügen“, wie es Zimmermann ausdrückte. Bei Bedarf könne das Publikum auch „die Bilder der gezeigten Personen vom Bildschirm abfotogra- fieren. Es könnte ja immerhin sein, dass Ihnen morgen der ein oder andere der Gesuchten über den Weg läuft.“Die Technik und das Erscheinun­gsbild der Sendung entwickelt­e sich fortan rasant weiter. Was blieb, ist die Faszinatio­n für das Verbrechen, das Gruseln im Wohnzimmer, das fesselnde Spiel mit den Ängsten der Zuschauer.

Dazu noch die Hauptdarst­eller, die im Laufe der Jahre bei Liebhabern der Serie Legendenst­atus erreichten. Da waren neben dem in München geborenen und 2009 gestorbene­n „Ganoven-Ede“Zimmermann noch der stets etwas schildkröt­enhaft wirkende Schweizer Konrad Toenz – dem in einer Bar in Berlin-Kreuzberg gleich ein eigener Cocktail gewidmet wurde – und sein österreich­ischer Gegenpart, der mitunter leicht bräsige Peter Nidetzky. All das zusammen machte „Aktenzeich­en XY ... ungelöst“zu einem „Flaggschif­f der deutschen Fernsehlan­dschaft“– so nannte Rudi Cerne einmal die Sendung, die er seit 2002 moderiert.

Ein Flaggschif­f, das allerdings auch mit gehörig Gegenwind zu kämpfen hatte. Zwar heimste Zimmermann für das Format allerlei Preise ein, gerade in den Anfangsjah­ren hagelte es jedoch auch jede Menge Kritik. Von „Menschenja­gd“war da die Rede, Ängste würden geschürt, vor allem Fälle mit ausländisc­hen Straftäter­n gezeigt. Als „Aktenzeich­en“schließlic­h in den 70er Jahren ausführlic­h über den Deutschen Herbst und die Taten der RAF berichtete, bekam Eduard Zimmermann sogar Polizeisch­utz zur Seite gestellt. Mit den Jahren flaute die Kritik deutlich ab.

Nicht selten rückten die medialen Verbrecher­jäger auch die Region in den Fokus. Schon in der zweiten Folge im November 1967 spielte einer der gedrehten Filme in Augsburg. Am Hauptbahnh­of war das Auto eines bundesweit aktiven und dann untergetau­chten Ganoven entdeckt worden. Die Kriminalpo­lizei bat die Zuschauer um Mithilfe.

Die Entführung der zehnjährig­en Ursula Herrmann schaffte es zwischen den Jahren 1982 und 2002 gleich dreimal in die Sendung. Das Mädchen war am 15. September 1981 am Ammersee entführt und rund drei Wochen später tot in einer vergrabene­n Kiste gefunden worden. Eduard Zimmermann hat den Fall stets als den schlimmste­n in seiner Fernsehkar­riere bezeichnet. Zu den spektakulä­rsten Fällen in Bayern zählen auch die Entführung des Unternehme­r-Sohns Richard Oetker 1976 in Freising, der Mord an einem Polizisten in Augsburg 2011 und der Doppelmord im oberbayeri­schen Höfen 2017.

All diese Verbrechen wurden bei „Aktenzeich­en XY . . . ungelöst“gezeigt. Unzählige Hinweise von Zuschauern gingen bei der Polizei daraufhin ein – doch der entscheide­nde war bei keinem der genannten Fälle dabei. „Das ist das Risiko, das man eingeht, wenn man mit der Fahndung ins Fernsehen geht. In der Regel kommen viele Hinweise, viele von ihnen gehen aber ins Leere“, weiß Helmut Sporer, Leiter der Augsburger Kriminalpo­lizei. Auch deswegen sei der Gang an die ganz große Öffentlich­keit oft die allerletzt­e Maßnahme der Polizei. Der letzte Strohhalm, an den sich die Ermittler in kniffligen Fällen klammern.

Vor drei Jahren hatten er und seine Kollegen Glück. Damals gab eine tote Frau im Lech den Polizisten ein Rätsel auf. Kajakfahre­r hatten die Leiche gefunden, doch niemand wusste, wer die Frau war. Erst Monate später brachte der Zeugenaufr­uf im ZDF und ein Hinweis aus Frankfurt am Main schließlic­h Klarheit über die Identität – und die Ursache für den Tod der Frau. Sie hatte sich wohl selbst umgebracht.

Kriminalha­uptkommiss­ar Robert Staub durfte diesen Fall vor der Kamera vorstellen. Auch für den heute 58-Jährigen war der Auftritt im Fernsehen eine „ganz neue und spannende Erfahrung“, wie er erzählt. Dabei hatte er als passionier­ter Darsteller einer Theatergru­ppe in Königsbrun­n eine gewisse Routine im Schauspiel­en. Und nichts anderes sei auch im TV-Studio gefragt gewesen. Zum einen im Gespräch mit Moderator Cerne, zum anderen aber auch als einer der Polizeibea­mten im Hintergrun­d, die während der Sendung im Studio an einem Tisch sitzen, mit einem Telefon vor sich. „In Wahrheit ist da bei mir kein einziger Anruf reingekomm­en,

Nicht immer ist alles hundertpro­zentig echt

ich sollte aber hin und wieder so tun, als würde ich telefonier­en. Damit es echt aussieht, habe ich zwischendu­rch mal die Kollegen in Augsburg angerufen“, erzählt Staub und lacht.

Es ist eben doch nicht immer alles hundertpro­zentig echt bei „Aktenzeich­en XY . . . ungelöst“. Diese Erfahrung machte nun auch Nicole S. (Name geändert) aus Lindenberg. Neun Jahre nach dem Überfall auf sie sah sich die Allgäuerin dieser Tage zum ersten Mal die Sendung an, in der „sie“vor zwei Jahren unfreiwill­ig eine Hauptrolle spielte. „Die Schauspiel­erin sah mir nicht wirklich ähnlich. Ich habe keine Locken, an dem Abend damals hatte ich auch kein grünes Kleid an, und das Ganze hat auch nur wenige Sekunden gedauert. Im Film war alles deutlich länger“, sagt die heute 28-Jährige. Doch auch wenn die Details nicht ganz wahrheitsg­etreu nachgestel­lt wurden, im Großen und Ganzen sei alles so passiert, wie es auch im Fernsehen zu sehen war.

Dass sie erst jetzt den Mut fand, sich die Sendung von damals anzusehen, habe einen einfachen Grund: „Damals war ich einfach noch nicht so weit.“Noch mehrere Jahre nach dem Überfall habe sie mit den Folgen zu kämpfen gehabt. Die Angst auf dem Heimweg in der Dunkelheit. Die Erinnerung­en, die immer wieder hochkamen. Die Tränen, die dann augenblick­lich in die Augen schossen. „Es dauert eine Weile, bis man so etwas verarbeite­t hat“, sagt die junge Frau.

Mittlerwei­le sei ihr das gelungen. Auch deswegen habe sie sich dazu entschiede­n, nun doch noch die Aufzeichnu­ng anzusehen. „Es war irgendwie surreal. Wegen all der Details, die nicht zu meinen Erinnerung­en passen, hat es sich ein bisschen angefühlt wie ein Krimi, mit dem ich aber gar nichts zu tun hatte“, beschreibt Nicole S. ihre Gefühle. Dennoch sei es für sie wichtig gewesen, den Film anzuschaue­n: „Es fühlt sich richtig an. Wie ein Puzzlestüc­k, das noch gefehlt hat.“

Für die Polizei fehlt das alles entscheide­nde Puzzlestüc­k nach wie vor. Vom Sextäter aus Lindenberg und Isny gibt es weiterhin keine Spur.

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Foto: Renate Schäfer, ZDF So sah das in der Anfangszei­t von „Aktenzeich­en XY . . . ungelöst“aus, wenn Moderator Eduard Zimmermann (links) erste Ermittlung­s Ergebnisse in den Studios Zürich und Wien abfragte.
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Foto: Forra, dpa Auch das in Portugal spurlos verschwun dene britische Mädchen Maddie war Thema in der Sendung.
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Foto: Polizei, dpa Der Fall der entführten Schülerin Ursula Herrmann ging Eduard Zimmermann be sonders unter die Haut.

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