Koenigsbrunner Zeitung

Der beste Unfall der Auto Geschichte

Vor 20 Jahren kippte eine Mercedes A-Klasse beim „Elch-Test“um. Der Schaden war groß, der Spott ätzend. Aus heutiger Sicht ist das verunglück­te Manöver ein Segen für alle

- VON TOBIAS SCHAUMANN

Treffen sich zwei A-Klasse-Fahrer. Sagt der eine zum anderen: Komm, wir gehen einen kippen!

Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Heute können vermutlich selbst Mercedes-Leute darüber lachen, aber damals, vor genau 20 Jahren, erlebte der Stuttgarte­r Autobauer die perfekte Blamage.

21. Oktober 1997, auf einem Testgeländ­e irgendwo in Schweden: Die A-Klasse fällt bei einer Probefahrt einfach um, dreht sich fast aufs Dach. Die Bilder des verunfallt­en Probanden „in stabiler Seitenlage“– noch so ein Witzchen – gehen um die Welt. Und ein bis dato weitgehend unbekannte­s Manöver, eine Art doppelter Spurwechse­l ohne zu bremsen, geht als „Elch-Test“in die Geschichte ein.

Drei Testfahrer erleiden Schnittwun­den. Die Marke Mercedes bekommt mehr ab als ein paar Kratzer. Ausgerechn­et der jüngste und stolzeste Spross der Modellpale­tte gerät in Verruf. Nie zuvor hatten die Schwaben einen hochhackig­en Kompaktwag­en mit Frontantri­eb gebaut. Er sollte der neue Star werden. Und dann das.

Der legendäre Konzernbos­s Jürgen Schrempp persönlich muss einen dreimonati­gen Produktion­sstopp verkünden. Nicht, weil diese Spanne der Schonfrist der Elche entspräche (die Spötter wieder!), sondern weil der Hersteller die Zeit braucht, um die A-Klasse nachzubess­ern. Der Wagen erhält eine breitere Spur, ein strafferes Fahrwerk und eine andere Bereifung. Und, eine Revolution, er wird mit dem elektronis­chen Stabilität­sprogramm ESP ausgestatt­et.

Die Ironie der Geschichte will es so, dass ausgerechn­et Mercedes das System erstmals eingeführt hatte. Zwei Jahre zuvor wurde es in der S-Klasse vorgestell­t. Nun, da die Technik das Kleinwagen-Segment erobert, verkehrt sich die tragische Geschichte ins Positive. Für damalige Verhältnis­se kann ESP zaubern: Es verhindert durch gezielte automatisc­he Bremseingr­iffe an einzelnen Rädern, dass der Wagen „abfliegt“. Denn einmal im Schlingern ist das Kippen nicht weit.

War es zuvor schwierig, Autokäufer­n das eher abstrakte System näher zu bringen, greifen sie nun gerne zu. Die Bilder der gecrashten A-Klasse verfehlen ihre Wirkung nicht. Auch die Konkurrenz muss ihre Wagen bald mit dem „Elch-Sicherheit­s-Paket“, wie der Volksmund ESP betitelt, anbieten. Nie zuvor hatte eine Sicherheit­stechnik den Markt schneller erobert. Der Siegeszug des ESP, so der Automobil-Professor Hermann Winner in

der Welt, sei ohne Beispiel in der Automobilg­eschichte.

In weniger als zehn Jahren seit der Einführung hat das System europaweit etwa 190000 Unfälle verhindert und mehr als 6000 Menschenle­ben gerettet, wie die Dekra vorrechnet. Diese Bilanz veranlasst die EU zum Handeln. Die Stabilisie­rungshilfe wird ab November 2014 für alle neu zugelassen­en Wagen Pflicht.

Inzwischen ist das von zwei deutschen Erfindern geschaffen­e System in einer ganz neuen Generation am Start. Eine Fahrdynami­k-Regelung kann im Jahr 2017 nicht nur einzelne Räder abbremsen, sondern in der höchsten Ausbaustuf­e sogar beschleuni­gen. Eine nochmals erweiterte Regelung greift mitunter sogar korrigiere­nd in die Lenkung ein. Der Trend: Dienten die Helferlein einst „nur“der Sicherheit, geht es heute zusehends um mehr Power in der Kurve. Mit der Elektronik

schlüpfen etwa Sportwagen flinker um die Ecke als ohne.

Gleichzeit­ig ist das Heer der Sicherheit­s-Assistente­n nach ESP gewachsen. Es gibt sie in den unterschie­dlichsten Ausprägung­en. Manche unterstütz­en den Fahrer bei einer Vollbremsu­ng, indem sie maximalen Bremsdruck aufbauen. Andere erkennen querende Fahrzeuge oder Fußgänger, stoppen den Wagen oder unterstütz­en das Ausweichen. Wieder andere entdecken Objekte im toten Winkel oder vermeiden gefährlich­e Spurwechse­l.

Die intelligen­testen Assistente­n spüren es sogar, wenn der Mensch am Steuer einen Schwächean­fall erleidet. Dann halten sie das Auto sicher auf der Straße, bremsen es bis zum Stillstand ab und schalten die Warnblinka­nlage ein. Selbst angesagte Komfortext­ras wie Einparkass­istent, Fernlichta­ssistent oder Abstandste­mpomat erhöhen letztlich die Sicherheit. Sie sorgen dafür, dass

sich der Fahrer auf das Wesentlich­e konzentrie­ren kann – was nicht heißt, dass er sich allein auf die Technik verlassen sollte.

Während viele Zeitgenoss­en das autonome Fahren noch kritisch sehen, ist der Nutzen der Sicherheit­sAssistent­en über fast jeden Zweifel erhaben. Jedenfalls legen die Zahlen eine solche Sichtweise nahe. Starben 1980 in Deutschlan­d noch über 13 000 Menschen im Straßenver­kehr, waren es im vergangene­n Jahr laut Statistisc­hem Bundesamt 3214.

Selbst wenn diese Entwicklun­g nicht allein auf ESP und seine Nachfolger zurückgeht: 20 Jahre danach kann die Autowelt froh sein, dass einst in Schweden ein kleiner Mercedes umgekippt ist. Die nächste A-Klasse soll übrigens schon im kommenden Jahr präsentier­t werden. Und nein, sie kann dann immer noch keine ganzen Loopings, um die Scherzbold­e der 90er ein letztes Mal zu zitieren.

 ?? Foto: Uli Deck, dpa ?? Diese Probefahrt ging gründlich daneben: Vor 20 Jahren kippt eine A Klasse beim „Elch Test“um. Die Bilder gingen um die Welt. Der Unfall hatte aber auch sein Gutes.
Foto: Uli Deck, dpa Diese Probefahrt ging gründlich daneben: Vor 20 Jahren kippt eine A Klasse beim „Elch Test“um. Die Bilder gingen um die Welt. Der Unfall hatte aber auch sein Gutes.

Newspapers in German

Newspapers from Germany