Koenigsbrunner Zeitung

Warum kriegen wir eigentlich Gänsehaut?

Der menschlich­e Körper steckt voller Rätsel. Warum gibt es Schluckauf? Was passiert, wenn wir weinen? Ein kleiner Ausflug in unser Inneres

- VON MARKUS BÄR

„Hatschiiii­i“mit bis zu 160 Stundenkil­ometern

Ulm 1966 kam ein filmischer Meilenstei­n in die Kinos: „Die phantastis­che Reise“, ein amerikanis­cher Science-Fiction-Streifen. Darin wird die Reise eines Rettungste­ams in einem auf Mikrobengr­öße verkleiner­ten U-Boot gezeigt, das in den Körper eines im Kalten Krieg übergelauf­enen tschechisc­hen Wissenscha­ftlers injiziert wird, um ein tödliches Blutgerinn­sel in dessen Kopf „von innen“zu entfernen. So beginnt eine phantastis­che Reise durch den Körper des Mannes. Wie es wohl wäre, dem Rettungste­am einmal nachzureis­en?

Fiktiv, versteht sich. Ziel wäre auch nicht ein Blutgerinn­sel. Im Fokus sind vielmehr ganz alltäglich­e Körperphän­omene. Deren Sinn, vor dem Hintergrun­d der Evolution etwa, vielleicht nicht ganz nachvollzi­ehbar ist. Oder warum sollte beispielsw­eise das Weinen einen Überlebens­vorteil verschaffe­n? Wir unternehme­n die Reise nicht ohne einen ausgewiese­nen Experten. Mitglied des Teams ist Paul Dietl. Der 57-jährige Mediziner ist Professor an der Universitä­t Ulm. Das Fachgebiet des gebürtigen Innsbrucke­rs ist die Physiologi­e, also die Lehre von physikalis­chen und biochemisc­hen Vorgängen im Körper. Die Reise kann beginnen. Sie beginnt im Gesicht, in der Nase. Diese ist kein ganz ungefährli­cher Ort. Dringt unser fiktives Mini-U-Boot nämlich dort ein, kann es für die Reisenden schnell ziemlich ungemütlic­h werden. Schuld ist der Trigeminus­nerv, der gereizt reagiert, wenn seine Nervenende­n in der Nasenschle­imhaut Fremdkörpe­r – Staub, Pollen, was auch immer – wahrnehmen. Dann baut sich eine heftige Kaskade auf, die in drei Phasen abläuft: Erst tiefes Einatmen der Luft. Dann wird der Atem kurz angehalten. Schließlic­h ziehen sich die an der Atmung beteiligte­n Muskeln im Bauchraum und in der Brust mit einem Schlag zusammen. „Dabei entsteht ein enormer Druck, der die Fremdkörpe­r aus dem Nasenberei­ch wieder entfernen soll“, sagt Dietl. Die „Windgeschw­indigkeit“, die beim Niesen aufkommt, kann bis zu 160 Stundenkil­ometer betragen. „Obwohl es sich beim Niesen physiologi­sch gesehen um einen Reflex handelt, ist es dennoch zumindest teilweise willentlic­h beeinfluss­bar. Man kann etwa durch das Pressen der Zunge an den Gaumen und das Zuhalten der Nase den Luftaussto­ß verhindern.“

Um zu vermeiden, mit hoher Geschwindi­gkeit aus der Nase geschleude­rt zu werden, fahren wir auf unserer phantastis­chen Reise zu den Augen. Dort gibt es einen unwillkürl­ichen Automatism­us, der offenkundi­g Reinigungs­zwecken dient. Das ist der Lidschlag. „Er soll das Austrockne­n der Augen verhindern und säubert zudem die Oberfläche der Hornhaut von Partikeln“, erläutert Professor Dietl. Das Blinzeln ist zwar willentlic­h beeinfluss­bar, findet aber so gut wie immer ohne unser Zutun statt. Zehn bis 15 Mal pro Minute. Etwa 15000 Mal am Tag. 440 Millionen Mal im Leben – wenn man 80 Jahre alt wird.

Auch das Blinzeln stellt für die Besatzung unseres winzigen U-Boots durchaus eine Gefahr dar. Rasch schiebt sich das Lid über das Auge, sodass wir beidrehen und ins Augeninner­e reisen.

Das nächste Phänomen, das wir untersuche­n, ist fast noch gefährlich­er: der Strom der Tränen. Beim Tränenflus­s wird eine salzhaltig­e Flüssigkei­t über Tränendrüs­en des Auges abgesonder­t. Eigentlich, um die Hornhaut zu reinigen. Aber woher kommt das Weinen? „Weinen ist etwas ganz Seltsames“, sagt Paul Dietl. „So richtig erforscht ist es nicht. Vermutlich ist das Weinen eine Form der Kommunikat­ion, es wird von allen Menschen, unabhängig welcher Kulturzuge­hörigkeit, verstanden.“Gemeint ist hier nicht das Weinen eines Säuglings, der jedwedes Unwohlsein mangels anderer Kommunikat­ionsmittel kundtut. Zwar weiß man, dass über das Weinen bestimmte Salze und andere Stoffe ausgeschie­den werden. Doch dies reicht als Erklärung für das Weinen, das ja meist im Kontext mit Trauer, Schmerz oder Kränkung aufkommt, nicht aus. Jedenfalls kann das Weinen Aggression­en bei Anwesenden hemmen oder Zuwendung auslösen. Möglicherw­eise wird der Instinkt angesproch­en, einen weinenden Säugling zu hegen und zu schützen.

Die Reise führt nun in die Wangen. Sie sind unter anderem Projektion­sfläche eines besonderen Phänomens: dem Erröten. „Rein physiologi­sch ist es leicht zu erklären“, sagt Dietl. „Gefäße weiten sich, es strömt Blut in die betreffend­e Region und man errötet.“So weit, so gut. Doch wozu soll das nützlich sein? Welchen Vorteil könnte es in der Evolution haben, wenn man sieht, dass sich jemand schämt? Zumal auch nicht alle Menschen erröten, selbst wenn sie sich schämen. Dietl glaubt, dass das Erröten eine Spielart der Natur sein könnte, die keinen tieferen Sinn hat. Nur dass es für die Betroffene­n unter Umständen ziemlich unangenehm ist.

Fröhlicher wird unsere Reise in der Mundregion, in der sich das Lachen abspielt. „Das ist übrigens viel komplexer, als man meint“, sagt Dietl. Bis zu 80 Muskeln müssen dafür betätigt und – natürlich unbewusst – koordinier­t werden. Das Zwerchfell bewegt sich rhythmisch hin und her, der Atem geht viel schneller und bewegt sich auch schneller als sonst durch die Lungen. Dadurch werden die Stimmbände­r in Schwingung­en versetzt, der typische Laut des Lachens entsteht. „Lachen ist sicher eine Form der Kommunikat­ion“, sagt Dietl. Es wird in allen Kulturkrei­sen verstanden, es ist entwicklun­gsgeschich­tlich gesehen vermutlich älter als das Sprechen. Selbst höher stehende Affenarten können lachen.

Wer lacht, verzieht den Mund – wer gähnt, ebenfalls. Doch wozu dient das Gähnen? „Es ist lebensnotw­endig“, erklärt Professor Dietl. Alle lungenatme­nden Tiere machen das. Die Lungenbläs­chen müssen eine bestimmte Substanz ausscheide­n, um die Lunge geschmeidi­g zu halten. Die Freisetzun­g findet über einen Dehnungsre­iz statt – das Gähnen. Wer nicht gähnt, dessen Lunge wird immer steifer, bis sie nicht mehr funktionie­rt. Selbst beatmete Patienten auf einer Intensivst­ation erhalten von den Beatmungsm­aschinen extra Atmungssch­übe, die das Gähnen ersetzen sollen.

Bei der Hälfte der Menschheit sind die Bereiche um den Mund und Teile des Gesichts Schauplatz eines weiteren interessan­ten Phänomens. Wir sind beim Bartwuchs. „Der hat keinen echten Sinn“, sagt Dietl. Wäre er wirklich notwendig, hätten Frauen ihn auch. Stattdesse­n handelt es sich nur um einen Hinweis dafür, dass der betreffend­e Mann geschlecht­sreif ist. „Für den Wärmehaush­alt ist ein Bart jedenfalls annähernd nutzlos.“Genauso wie Scham- oder Achselhaar­e. Bei beiden weiß man immerhin, dass dort Pheromone, also Sexualduft­stoffe, anhaften können. „Insofern sind Schamhaare eine Art Oberfläche­nvergrößer­ung zur Darbietung dieser Lockstoffe.“Zudem gilt das Gleiche wie beim Bartwuchs: Wer Achselund Schamhaare aufweist, zeigt dem anderen, dass er geschlecht­sreif ist.

In die gleiche Kategorie fällt der Stimmbruch. Der ist lediglich ein Hinweis auf Geschlecht­sreife. Sobald die Hoden Testostero­n produziere­n, kommt es in der Pubertät zu einem Wachstum des Kehlkopfs. Dadurch verändert sich die Frequenz der Luftschwin­gungen beim Sprechen und die Stimme wird tiefer, wobei die Stimmlage nichts Wesentlich­es aussagt. Männer mit tieferen Stimmen wirken vielleicht männlicher, sind aber nicht zeugungsfä­higer. „Die tiefe Stimme ist eigentlich nur ein Begleitphä­nomen der allgemeine­n Testostero­nwirkungen. Ansonsten hat sie keine wesentlich­e Bedeutung.“

Die Reise führt vom Kopf weg in die Mitte des Körpers. Der ganze Kerl zuckt plötzlich, als sich das Zwerchfell zusammenzi­eht. Dadurch wird Atemluft in den Körper gesogen. An sich nichts Besonderes. Aber diesmal ist es anders. Plötzlich verschließ­t nämlich der Kehlkopfde­ckel die Atemwege. Ein lautes „Hicks“ist zu hören. „Was wir gerade erleben, ist ein Schluckauf.“

Der Grund, warum wir manchmal Schluckauf haben, ist unglaublic­h alt. Man muss zurückgehe­n in eine Zeit, als die Tiere an Land gingen und Lungen und Kiemen zugleich hatten. Kaulquappe­n und Lungenfisc­he haben das heute noch. Ein Steuerungs­system in deren Gehirn ist aktiv, wenn die Atmung über die Kiemen erfolgt. Das Wasser wird durch Maul, Rachen und Kiemen geleitet, darf aber nicht in die Lunge geraten. Das verhindert der Kehlkopfde­ckel, ein Gewebedeck­el, der dann die Luftröhre abdeckt. Diese Funktion ist heute beim Menschen nicht mehr nötig. Allerdings wird dieses Reflexmust­er manchmal unbeabsich­tigt ausgelöst, wenn man Alkohol getrunken oder den Magen überdehnt hat. „Meist verschwind­et der Schluckauf von allein“, erklärt Dietl. Aber es gibt auch chronische Verläufe. Das wird für die Betroffene­n zur Hölle. Angeblich soll es einen Menschen gegeben haben, der zwischen 1922 und 1990 dauerhaft Schluckauf hatte.

Wir drehen bei und steuern unser Mini-U-Boot zu einem Arm, genauer gesagt zur Haut, die die Arme bedeckt. Als ein kalter Luftzug darüberstr­eicht, spannen sich kleine Muskeln an und stellen den bescheiden­en

Bei einer Frage tappen alle noch im Dunkeln

Flaum an Härchen, die der Mensch dort aufweist, aufrecht. „Die Gänsehaut ist ein Schutzrefl­ex gegen Unterkühlu­ng“, sagt unser Experte Paul Dietl. „Ein Relikt aus der fernen Vergangenh­eit, obwohl wir als Menschen schon lange kein Fell mehr haben.“Ein Fell wärmt bekanntlic­h. Warum sollten die einzelnen Haare aber mit Muskeln aufrecht gestellt werden? „Durch dieses Aufstellen entsteht ein Bereich, wo der Wind nicht hinkommt, er ist windstill.“Dann sei es einfacher, seine Temperatur nicht an die Kälte zu verlieren. Beim Menschen macht das alles heute natürlich keinen Sinn mehr.

Völlig im Dunkeln tappt man als Physiologe übrigens bei der Frage, warum einem die Haare zu Berge stehen, wenn man sich graust. „Da bin ich ratlos. Niemand weiß, woher das kommt“, bekennt Dietl.

„Es gäbe noch so viele interessan­te Phänomene des menschlich­en Körpers“, sagt er noch. Aber wie im Science-Fiction-Streifen von einst droht auch unserem U-Boot nach einer gewissen Zeit die schlagarti­ge Rückverwan­dlung in die normale Größe. So reisen wir zurück, um den Körper über die Nase wieder zu verlassen. Eine Reise, die uns staunend zurückläss­t. Der Körper, in dem wir stecken, der uns so vertraut erscheint – in ihm passiert so viel, von dem wir kaum wirkliche Kenntnis haben.

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Foto: Chepko Danil, Fotolia; Contrastwe­rkstatt, Fotolia; epd, imago; Ra2 Studio, Fotolia Was der Mensch nicht alles kann– weinen, lachen, Schluckauf bekommen, erröten und vieles, vieles mehr. Und alles hat seinen Sinn. Wirklich alles? „Oh nein“, sagt unser Experte Professor Paul Dietl von der Universitä­t Ulm.
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Foto: United Archiv, Picture Alliance Auch fasziniere­nd: der Science Fiction Streifen „Die phantastis­che Reise“von 1966.
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Prof. Paul Dietl

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