Er will nicht zurück zu den Mördern
Ein 55-jähriger Tschetschene verliert durch Mord seine Mutter und seine Frau. Er sucht in Deutschland Zuflucht. Weil er für das Asylverfahren keinen russischen Pass beantragen will, musste er nun vor Gericht
Bakar M.*, 55, ein hagerer Mann mit eingefallenen Wangen, Stoppelbart und traurigen Augen, blickt starr und teilnahmslos vor sich hin. Obwohl eine Dolmetscherin alles im Gerichtssaal Gesprochene für ihn übersetzt, scheint es, als könne er mit all den komplizierten juristischen Begriffen aus dem Ausländerrecht nichts anfangen, die in diesem Prozess diskutiert werden. Erst ganz am Ende, als Richterin Susanne Scheiwiller ihm das „letzte Wort“erteilt, sagt er zwei Sätze und ringt mit der Fassung: „Meine Mutter wurde ermordet, und meine Frau auch. Es ist für mich unmöglich, in einem Staat zu leben, in dem meine Mutter getötet wurde.“
Bakar M. ist Tschetschene, er ist sichtlich ein gebrochener Mann. Er kommt aus einem Land im Kaukasus, in dem zwischen 1994 und 2009 zwei schlimme Kriege mit Russland tobten, die Zehntausende von Opfern forderten. Bakar M. will dorthin nicht mehr zurück. Und er weigert sich offenbar, beim Generalkonsulat in München einen Pass für die russische Föderation zu beantragen. Tschetschenien gehört als sogenannte autonome Republik zu Russland.
Den Pass braucht er aber, um weiter in Deutschland auf den Aus- gang seines Asylfolgeverfahrens zu warten. Sein Aufenthalt ohne russischen Pass ist strafbar.
Als sich die Sowjetunion Ende 1991 auflöste, begann der Kampf der Tschetschenen um die Unabhängigkeit. Zweimal, 1994 und 1999, marschierten russische Truppen ein. Es gab schlimme Kriegsverbrechen auf beiden Seiten, unendlicher Hass und Terroranschläge. Der tschetschenische Präsident Wird der Asylantrag eines Flücht lings rechtskräftig abgelehnt, gibt es für ihn noch die Möglichkeit, einen erneuten Antrag zu stellen – einen sogenannten Asylfolgeantrag. Voraussetzung dafür ist, dass sich eine neue Situation ergeben hat. Das ist etwa der Fall, wenn sich die Sicherheitslage für den Asylsuchen den in seiner Heimat verschlech tert hat oder wenn er neue Beweise für eine dort drohende Verfolgung vorlegen kann. Während der Prüfung des Antrags wird der Antragssteller nicht abgeschoben. (jöh) Dschochar Dudajew, der an der Spitze der Unanhängigkeitsbewegung kämpfte, wurde am 21. April 1996 bei einem russischen Raketenangriff getötet. Beerdigt ist der Rebellenchef in dem kleinen Dorf Schalaschi. Aus diesem Ort stammt auch Bakar M. Er war während des Krieges nach Deutschland geflohen.
Sein Asylantrag wurde allerdings abgelehnt. Im Jahr 2011 wurde er in die Russische Föderation – das ist die offizielle Bezeichnung des Staates Russland – abgeschoben. Doch im Jahr 2013 kehrte er nach Deutschland zurück. Sein Asylfolgeantrag, den er gestellt hat, liegt seit vier Jahren bei den Behörden. Entschieden ist nichts. Das Problem von Bakar M.: Während des Folgeverfahrens besteht Passpflicht. Einen russischen Pass will der Tschetschene jedoch nicht. Deshalb sitzt er nun in einem Strafverfahren vor dem Amtsgericht. Der Vorwurf laut: Unerlaubter Aufenthalt ohne Pass.
Für das Gericht ist nur eine Frage entscheidend: Gibt es Probleme für Tschetschenen, wenn sie einen russischen Pass beantragen? Ein Beamter der Augsburger Ausländerbehörde, der als Zeuge geladen ist, sagt: „Nein.“Von Problemen beim Generalkonsulat sei ihm und auch anderen Kollegen nichts bekannt. Der Angeklagte müsse dort auch nicht mit seiner Festnahme rechnen. Es gebe allenfalls bürokratische Hürden, aber keine systematische Diskriminierung. Eberhard Bofinger, Pflichtverteidiger des Angeklagten, sieht das ganz anders. Tschetschenen, die im Verdacht stünden, den Widerstand unterstützt zu haben, drohe nach wie vor Verfolgung und auch Folter. Er verweist dabei auf zwei Urteile in Asylverfahren des Verwaltungsgerichts München und des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern.
Für Amtsrichterin Susanne Scheiwiller ist allerdings das Strafgesetz maßgebend. Deshalb verurteilt sie Bakar M. zu einer viermonatigen Bewährungsstrafe samt der Auflage, binnen zwei Monaten nach Rechtskraft des Urteils einen Pass zu beantragen. „Der Angeklagte hat eine tragische Lebensgeschichte, die
Der Angeklagte ist ein gebrochener Mann Der Asylfolgeantrag Drohen dem Tschetschenen Folter und Verfolgung?
auch das Gericht rührt. Aber die Rechtsordnung muss eingehalten werden“, begründet die Richterin die Entscheidung. Alles, was man verlange, sei, dass der Angeklagte schriftlich beim Konsulat einen Passantrag stelle. „Dann hat er seine Pflicht getan.“
Rechtsanwalt Eberhard Bofinger sagt nach dem Prozess, tschetschenische Flüchtlinge würden in Deutschland mal anerkannt und mal nicht. Die Rechtsprechung sei sehr unterschiedlich. Wenn sein Mandant einen Pass beantrage, seien Nachteile für ihn zu befürchten. „Dann könnte man sagen, wer sich um einen Pass bemüht, sei keiner Verfolgungsgefahr mehr ausgesetzt“, so der Anwalt. Er werde nun sämtliche Rechtsmittel ausschöpfen und hoffen, dass bis zu einer Rechtskraft des Strafprozesses auch über den Folgeantrag von Bakar M. entschieden ist. *Name geändert